Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Samstag,
1. April 1933

Laufzettel für Erich Simenauer mit dem Vermerk »Nicht misshandeln«

Im Zuge des von der NSDAP vorbereiteten antijüdischen Boykotts am 1. April kommt ein SA-Trupp in das Krankenhaus am Urban in Berlin-Kreuzberg. Die Männer verhaften den bekannten Chirurgen und Psychoanalytiker Professor Dr. Erich Simenauer (1901–1988) und verschleppen ihn in die berüchtigte Kaserne General-Pape-Straße, die als »wildes KZ« dient.

In den Kellerräumen sind die Gefangenen, neben bekannten Juden vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, der exzessiven Demütigung, Prügel und Folter durch die SA ausgesetzt. Ein ehemaliger Patient unter den SA-Männern erkennt jedoch Simenauer wieder und schreibt auf dessen Laufzettel den Vermerk »Nicht mißhandeln«.

Dies bewahrt Simenauer vor der nächtlichen Quälerei, wie er knapp 50 Jahre später beschreibt: »Rechts und links von mir wurden einige Leute mit Knüppeln so lange geschlagen, bis sie tot waren, es war entsetzlich. Wenn sie sie wenigstens erschossen hätten, aber sie haben sie zu Tode geknüppelt! Mir hat dieser Zettel das Leben gerettet!«

Manfred Wichmann

Kategorie(n): Ärzte | Auswanderung | Berlin | Gefangenschaft
Gefangenen-Laufzettel für Erich Simenauer, Vorder- und Rückseite, Berlin, 1. April 1933
Schenkung von Agnes Wergin

Erich Simenauer

Erich Simenauer kommt am 31. August 1901 im oberschlesischen Gleiwitz zur Welt. Nach seinem Abitur beginnt er 1920 in Freiburg im Breisgau Philosophie und Medizin zu studieren, im Herbst des Jahres wechselt er nach Berlin. Simenauer promoviert 1926 und ist dann als Arzt bis 1933 in verschiedenen Berliner Kliniken tätig, darunter in der Frauenklinik der Charité und im Städtischen Rudolf-Virchow-Krankenhaus.

Er ist nicht nur als Chirurg eine Koryphäe, sondern auch als theoretischer Psychoanalytiker bekannt. Seine anstehende Habilitation und Ernennung zum Professor im Frühjahr 1933 wird durch die NS-Herrschaft verhindert, im März des Jahres schließt ihn die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie aus. Er ist noch kurze Zeit als Arzt im Krankenhaus am Urban tätig, bis er am 1. April verhaftet wird.

Erich Simenauer (rechts) mit einem Kollegen vor dem Krankenhaus Am Urban, April 1932
Schenkung von Agnes Wergin 

Zypern – Tanga – Berlin

Nach vier Wochen Haft im SA-Gefängnis wird Simenauer vorläufig entlassen. Er verlässt daraufhin sofort das Land und emigriert mit seiner Frau Erna nach Zypern, das damals noch britische Kronkolonie ist. Dort eröffnet Simenauer eine chirurgische und gynäkologische Praxis. Als dem Ehepaar 1939 die Verlängerung ihrer deutschen Pässe verweigert wird, nehmen Erich und Erna Simenauer die britische Staatsangehörigkeit an.

Sie bleiben noch bis 1941 auf Zypern, dann müssen sie die Insel wegen des Krieges im Mittelmeer verlassen. Sie gehen in die Hafenstadt Tanga im heutigen Tansania, wo Simenauer wieder als Krankenhausarzt arbeitet.

Erst 1957 kehrt er nach Berlin zurück. Er lehrt am Psychoanalytischen Institut und untersucht als einer der ersten die psychischen Spätfolgen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Im Jahr 1980 zeichnet ihn die Stadt für seine Verdienste mit einer Ehrenprofessur aus.

Zertifikat für Erich Simenauer über seine ärztliche Tätigkeit auf Zypern, Nikosia, 7. Juni 1941
Schenkung von Agnes Wergin 
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