Veröffentlicht von am 14. September 2012

Die Bibliothek als Heimat

Kitaj hat einmal gesagt, für ihn seien die Bücher das, was die Bäume für einen Landschaftsmaler sind.

Mann mit Kisten, durch ein Schlüsselloch gesehen

R.B. Kitaj, Unpacking my Library, 1990-1991 © R.B. Kitaj Estate

Seine Ateliers im Londoner Stadtteil Chelsea und in Westwood, Los Angeles waren mit Büchern vollgestopft, die in Regalen, aber auch rund um seine Staffelei auf dem Boden sich türmten. Schon als Student an der Cooper Union streifte er auf dem Weg zur Kunstschule durch die billigen Buchläden in der 4. Avenue, der größten Bücherstraße der Welt. Hier fand er nicht nur die Klassiker der Moderne wie James Joyce, Ezra Pound, T.S. Eliot und Kafka, sondern vor allem Zeitschriften wie die »Partisan Review« und das amerikanische Surrealisten-Magazin »View«. In Oxford entdeckte er über seinen Lehrer Edgar Wind die Warburg-Schule und kaufte den kompletten Satz des berühmten »Journals of the Warburg Institute«. Die Illustrationen zum »Nachleben der Antike« in Form von Kupferstichen nach antiken Vorlagen regten seine visuelle Phantasie an.

1969 publizierte Kitaj 50 Buchumschläge seiner persönlichen Bibliothek
als Siebdrucke in einer Edition, die er »In Our Time: Covers for a Small Library after the Life for the Most Part« nannte.

Viele Bildtitel aus Kitajs œuvre gehen auf Bücher zurück wie »The Autumn of Central Paris«, das die Vertreibung des Proletariats aus dem Zentrum von Paris an die Peripherie beschreibt, oder »If Not, Not«, das auf den Eid der Aragonesen im Mittelalter anspielt.

Albtraumlandschaft

R.B. Kitaj, If Not, Not, 1975––1976 © Scottish National Portrait Gallery, Edinburgh

Vor allem aber waren die Buchillustrationen Quellen vieler Bilder, wie der mit seinem Stuhl kippelnde Zappel-Philipp aus Heinrich Hoffmanns Kinderbuch »Struwwelpeter« auf seinem Gemälde »London by Night«.

Auf seinem Selbstporträt »Unpacking My Library« (1990/91) zeigt sich Kitaj beim Auspacken seiner Bücherkisten. Der Titel des Bildes spielt auf Walter Benjamins berühmten Essay »Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln« von 1931 an, den Kitaj in der ersten auf Englisch erschienenen Benjamin-Ausgabe »Illuminations« 1968 gelesen hat. Kitaj identifiziert sich mit Benjamin als Buchsammler, indem er sich auf dem Bild sogar dessen Brille aufsetzt und dessen Schnurrbart trägt. Der Zustand lose herumliegender Bücher beim Auspacken löst, so Benjamin, bei einem echten Sammler eine »Springflut von Erinnerungen« aus bevor die »leise Langeweile der Ordnung« auf Regalbrettern wieder einen Damm dagegen errichtet. Wie Benjamin fällt auch Kitaj zu jedem Buch die abenteuerliche Geschichte seiner Entdeckung und Erwerbung ein.

Alle seine Eindrücke, was er gelesen, was er gesehen hat, was ihm aufgefallen und was ihm zugestoßen ist, versammelt er in seinen Bildern. In diesem Sinne sind sie »alle autobiographisch«. So werden für ihn die Bilder und Bücher seiner Bibliothek zu seinem eigentlichen Zuhause, zu seiner Heimat.

Eckhart Gillen, Kurator 

Mehr zu R.B. Kitaj finden Sie unter: www.jmberlin.de/kitaj