Veröffentlicht von am 6. September 2012

Fehlende Elemente in der Literatur

Die Suche nach einer jüdischen Vergangenheit ist das Thema von Jonathan Safran Foers neuestem Roman, Tree of Codes. Löchrige BuchseiteSchon sein Debutroman und Bestseller Alles ist erleuchtet, der von Hollywood verfilmt wurde, handelte von einem jungen Mann, der auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie in die Ukraine reist. Foers neustes Buch handelt ebenfalls von der Suche nach jüdischen Wurzeln, doch sind es dieses Mal eher künstlerische statt biographische Wurzeln.

In seinem Buch experimentiert Foer mit dem Konzept der Abwesenheit. Er reproduziert Teile von Bruno Schulz’ Street of Crocodiles (dt: Zimtläden), eines von zwei überlieferten Werken des Autors, dessen übrigen Texte verloren gingen, als die Nationalsozialisten 1941 seine Heimatstadt Drohobycz eroberten und 1942 deren Bürger, einschließlich Schulz, ermordeten.

Indem er Buchstaben aus dem Buch herausschneidet, scheint Foer den Verlust für die Literatur spiegeln zu wollen. Ganze Passagen entfernt er auf diese Weise aus Schulz’ Buch und lässt nur ausgewählte Worte und Halbsätze stehen, wodurch bereits der Titel Street of Crocodiles zu Tree of Codes verkürzt wird. Literatur zu schaffen trotz Verzicht auf wichtige Elemente, hatte sich bereits 1969 Georges Perec selbst verordnet. Der Holocaust-Überlebende schrieb einen Roman mit Titel La disparition, in dem er ganz auf den Buchstaben »E« verzichtete. Abwesenheit ist überhaupt eines der wichtigsten Konzepte der visuellen Künste nach 1945, vor allem in der jüdischen Kunst. Seite mit ausgeschnitzten FeldernSo besteht das Berliner Mahnmal der Bücherverbrennung von 1936 auf dem Bebelplatz, das von Micha Ullman gestaltet wurde, aus einem in den Untergrund versenktem Skelett von einer Bibliothek mit nackt-leeren Regalen. In unserem eigenen Museum wird die Abwesenheit durch Daniel Libeskinds »Voids« dargestellt: Leerräume, die das Gebäude durchschneiden und die Besucher an das kulturelle Erbe gemahnen, das verloren ist, verworfen und vernichtet.

Schon durch die Titelwahl verknüpft Tree of Codes die jüdische Kunst des Verlusts mit dem biblischen Tree of Life, dem Baum des Lebens, der Adam und Eva abhanden kommt. Dabei haben sich grüne Blätter in weiße (Papier-)Blätter verwandelt und Realität in Literatur. Foer verankert sein Werk in dieser Tradition und lässt uns (durch Schulz) wissen: »Wir sind Teil des Chiffren b aums. Die Wirklichkeit ist dünn wie Pa pier.« (»we find ourselves part of the tree of cod es. Reality is a s thin as paper.« (92). (Jonathan Safran Foer, Tree of Codes, London: Visual Editions 2010)

Naomi Lubrich, Medien

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