Veröffentlicht von am 12. November 2012

Constantin Brunner im Kontext

Constantin Brunner (1862–1937), gehört zu den philosophischen Schriftstellern, die erst noch entdeckt werden müssen. Constantin Brunner am SchreibtischAus Anlass seines 150. Geburtstages und 75. Todestages fand vom 21. bis zum 23. Oktober 2012 im Jüdischen Museum eine Tagung statt, die auf vielfältige Weise seinem Denken und seiner Persönlichkeit nachspürte.

Der deutsch-jüdische Philosoph Brunner, der ursprünglich Leo Wertheimer hieß, wurde in Altona geboren, studierte Religionswissenschaft, Philosophie und Geschichte in Köln, Berlin und Freiburg, lebte in Hamburg als Redakteur und Schriftsteller, bis er sich seit 1895 in Berlin und seit 1913 in Potsdam der Ausarbeitung eines eigenen philosophischen Systems widmete. Als erstes Hauptwerk erschien 1908 die Lehre von den Geistigen und vom Volk. Seit 1911 arbeitete Brunner auch vermehrt an einer Positionierung gegenüber dem Antisemitismus und zugleich gegen den Zionismus; in Büchern und Aufsätzen nahm er vielfach zur »Judenfrage« Stellung (z.B. 1918 in Der Judenhaß und die Juden und 1930 in Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates). Zugleich arbeitete er an einer Geistphilosophie (z.B. 1921 in Unser Christus oder das Wesen des Genies und 1928 in Materialismus und Idealismus). 1933 ging er ins niederländische Exil nach Den Haag, wo er 1937 starb.

Leben, Werk und Wirkung Brunners sind lange nur im Kreis seiner Freunde und Anhänger gepflegt worden. Durch seine streitbare Persönlichkeit, sein philosophisches Pathos, seine scharfe Bildungskritik und seine unbequemen politischen Ansichten blieb Brunner im Hintergrund der Diskurse. In letzter Zeit erwecken Brunners Werk und Persönlichkeit wieder Interesse, so dass eine grundsätzlichere Neubetrachtung wünschenswert schien.

Ein Ausgangspunkt der Tagung war die Online-Stellung der Constantin Brunner Collection, des größten Nachlasses im Leo Baeck Institute. Durch die Online-Zugänglichkeit sind vertiefte Einblicke in Brunners Leben und Werk, aber auch in den Kreis um ihn möglich geworden. Ein anderer Ausgangspunkt bestand in der Publikation einer Auswahl von Briefen Constantin Brunners im Wallstein-Verlag, wodurch dieser Denker in seinen historischen Kontexten erstmals deutlicher erkennbar wird. Wichtige dieser Briefe wurden den Tagungsteilnehmern in einer Lesung von Hanns Zischler vorgestellt.

Die Referenten spürten in ihren Vorträgen Brunners zentralen Themen und Werken nach und erörterten diese in den zeitgenössischen Kontexten, wie etwa die Moderne-Kritik und Kunsttheorie des frühen Brunner in dessen Zeitschrift »Der Zuschauer«, seine Auffassung der Geistes- und Kulturgeschichte, seine binäre Unterscheidung von Geistigen und Volk, sein Spinozismus, sowie sein Patriotismus, sein Antizionismus, seine Antisemitismuskritik und seine Assimilationsforderung. Ferner wurden zeitgenössische Brunnerrezeptionen exemplarisch vorgestellt: Die Begegnungen Brunners mit Lou Andreas-Salomé sowie mit Rose Ausländer, die zum Czernowitzer Brunner-Kreis um Friedrich Kettner gehörte. Brunners Religionskritik geriet insbesondere unter dem Aspekt der Eckhart-Rezeption in Brunners »Christus«–Buch in den Blick und auch das häusliche Umfeld sowie die Rhetorik des Philosophen wurden diskutiert.

Die Tagung hat insgesamt gezeigt, dass Brunner ein eigenständiger und engagierter Denker war, der mit großem persönlichen Engagement schrieb. Einige seiner Denkergebnisse greifen späteren Errungenschaften voraus. Durch die Aufarbeitung der Kontexte, in dem sein Denken entstanden ist, zeigte sich allerdings, dass Brunner nicht oder jedenfalls nicht immer ein Solitär war, wie er selber zuweilen den Anschein erweckte: Er kann zum Teil aus den zeitgenössischen Diskursen begriffen werden, und er griff gelegentlich in diese ein, auch wenn er selber es nicht immer kenntlich machte.

Die Tagung konnte Brunners Denken nur in einigen wenigen Aspekten erfassen. Klar wurde, dass sein komplexes Werk durch eine solche ausschnittsweise Betrachtung nicht abschließend zu beurteilen ist. Es entstanden daher viele Fragen, die erst in weiterführenden Forschungen geklärt werden können.

Die Vorträge der Tagung sollen 2013 in einem Sammelband veröffentlicht werden.

Jürgen Stenzel, Göttingen

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