Ein kleines Fenster zur Geschichte

Eine neuerworbene Pessach-Haggada und ihre früheren Kreuzberger Besitzer

In der kommenden Woche, am Abend des 14. April, findet der erste Seder des Pessachfests statt. Juden in der ganzen Welt werden sich mit ihren Familien und Freunden an festlich gedeckten Tischen zusammenfinden und die jahrhundertalte Tradition des Lesens der Haggada aufleben lassen. Darin wird die Geschichte von der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft nacherzählt und die festgelegte Ordnung des Abends vorgegeben.

Titelblatt der Haggada in Hebräisch und Deutsch sowie handschriftliche Eintragungen auf der Klappe

»Erzählung von dem Auszuge Israels aus Egypten an den beiden ersten Pesach-Abenden«, Rödelheim bei Frankfurt am Main 1848
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Aubrey Pomerance

Vor kurzem fiel mir in einer Online-Auktion eine Haggada auf, die ich für einen kaum nennenswerten Betrag für die Sammlung des Jüdischen Museums erwerben konnte. Das 1848 in Rödelheim bei Frankfurt am Main gedruckte und unter dem Titel Erzählung von dem Auszuge Israels aus Egypten an den beiden ersten Pesach-Abenden veröffentlichte Buch beinhaltet den hebräischen Text der Haggada zusammen mit einer von Wolf Heidenheim angefertigten deutschen Übersetzung. Es ist die ca. zwanzigste Ausgabe seiner 1822/23 erstmals herausgebrachten Haggada, welche die deutsche Übersetzung in hebräischen Lettern wiedergab. In diesem Fall aber verwendet er, wie erstmals 1839, lateinische Buchstaben.

Am Druck unserer Ausgabe der Haggada ist nichts Bemerkenswertes. Sie ist bar jeglicher Abbildungen, die so viele Haggadot sonst enthalten und derentwegen zahlreiche Menschen eine eigene Sammlung angelegt haben. Sie weist keine ausgefallene Typografie auf, bietet keinerlei Kommentare oder sonstige Besonderheiten. Das Buch ist nicht einmal ganz vollständig, denn es fehlen die letzten 15 Seiten. Nein, das Fesselnde an unserer Haggada liegt nicht in ihrer Ausstattung.
Es sind vielmehr die handschriftlichen Eintragungen, die sich auf den beiden Umschlaginnenseiten befinden. Denn hier sind die Namen von Personen verzeichnet, die acht Seder-Abenden zwischen 1886 und 1904 beigewohnt haben. Nun wird mit Sicherheit das Vorhandensein solcher Listen keine absolute Ausnahmeerscheinung sein, auch wenn diese Haggada die einzige im Bestand des Museums ist, in der solche Eintragungen zum Vorschein kommen. Für uns von besonderem Interesse ist jedoch die Tatsache, dass die hier genannten Personen das Pessachfest in der unmittelbaren Nähe des Museums gefeiert haben, nämlich am Halleschen Ufer und in der Hedemannstraße.

Die in Hebräisch beschriebene letzte Seite, Seite 64, und die Klappe mit handschriftlichen Eintragungen

Handschriftliche Eintragungen auf der hinteren Buchklappe
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Aubrey Pomerance

Durch Recherchen und mit Unterstützung meiner Kollegin Barbara Welker vom Centrum Judaicum, die mit Bestattungsdaten des Friedhofs in Berlin-Weißensee aufwarten konnte, ist es gelungen, die Mehrzahl der genannten Personen genauer zu identifizieren. Es stellte sich heraus, dass wir es im Kern mit den drei verwandten Familien Aron, Salomon und Stern zu tun haben. Der Erstbesitzer unserer Haggada, der 1818 im rheinischen Nickenich geborene Joseph Salomon, gab das Buch an seinen 1848 in Aachen geborenen Sohn Rudolph weiter, der später in Berlin Mitinhaber einer mechanischen Trikot-Weberei wurde. In der Wohnung Hallesches Ufer 3/4, die er mit seiner aus Siegburg stammenden Frau Lina geb. Stern bewohnte, fanden die Seder-Abende in den Jahren 1886 bis 1888 statt. In den Jahren 1899 bis 1901 und vermutlich auch 1902 sowie 1904 versammelte man sich in der Wohnung ihrer Nichte Anna Aron und deren Mann Paul in der Hedemannstraße 13/14. An den Sedern trafen sich die Eltern, Geschwister und Kinder von Anna Aron, Geschwister von Rudolph Salomon sowie weitere Verwandte und Freunde, die zum Teil ganz in der Nähe wohnten. Die Lebensdaten vieler der hier Genannten konnten ermittelt werden sowie Einzelheiten über teils schwere Schicksale: So wurde Anna Aron 1942 in Theresienstadt, ihr Sohn, der Studienassessor Dr. Kurt Aron, im gleichen Jahr in Auschwitz ermordet.

Welche Wege die Haggada indessen genommen hat, bis sie im Online-Verkauf angeboten wurde, wird wohl nicht zu rekonstruieren sein. Fest steht, dass sie als Buch des Gedenkens an den Auszug aus Ägypten den Familien als eigenes Erinnerungsbuch diente und sich nun als kleines Fenster zu ihren Geschichten öffnet. Dass es jetzt an einem Ort aufbewahrt wird, der sich unweit der Wohnungen befindet, in denen es vor mehr als hundert Jahren bei Pessach-Sedern gelesen wurde, ist ein großer Zufall. Weitere Forschungen mögen neue Kenntnisse mit sich bringen – und hoffentlich zu Kontakten mit den Nachkommen führen.

Aubrey Pomerance, Archivleiter

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