Veröffentlicht von am 31. Juli 2014 0 Kommentare

»Absendung wegen Kriegszustandes verboten«

Ein Brief aus dem Archiv berichtet über den Kriegsbeginn 1914

Handschriftlicher Brief

Brief von Leo Roos an seine Familie (1. Seite), Frankfurt am Main, 31. Juli 1914
Schenkung von Walter Roos
© Jüdisches Museum Berlin

»Die Situation ist äußerst ernst; heute nachmittag wurde von Seiner Majestät dem Kaiser der Kriegszustand über Deutschland verhängt«. Diese Zeilen schrieb der 18-jährige Leo Roos heute vor 100 Jahren an seine Eltern und Geschwister im westpfälzischen Dorf Brücken. Doch sie sollten den Brief niemals erhalten, wie ein Vermerk auf dem Briefumschlag dokumentiert: Wegen des Kriegszustandes wurde er nicht zugestellt, sondern ging an den Absender zurück.

Roos hatte das Gefühl, schicksalhafte Stunden zu erleben. Er wohnte zu diesem Zeitpunkt in Frankfurt, wo er eine Ausbildung in einem Bankhaus absolvierte. In der Großstadt wähnte er sich näher an den weltgeschichtlichen Ereignissen dran als seine Familie in ihrem abgeschiedenen Dorf. Er schilderte die spannungsgeladene Stimmung: »Die Leute sind natürlich sehr erregt, jedoch gefaßt, tausende von Menschen bewegen sich in den Straßen, auf dem Börsenplatz steht Kopf an Kopf gedrängt eine Menschenmenge & liest die Depeschen, die (seit 2 Tagen schon) jede Minute neu eintreffen, auf Extrablättern ausgeteilt werden & auf ein weißes Tuch, das auf dem Dach der Börse angebracht ist, projiziert & so dem großen Publikum zugänglich gemacht werden.« Man erwarte stündlich die Generalmobilmachung, die tatsächlich einen Tag später verfügt werden sollte. Aus eigener Erfahrung berichtete Leo Roos vom Ansturm auf die Banken und von Hamsterkäufen in den Lebensmittelgeschäften. Seine Familie wies er an, Vorsorge zu treffen: »ich meine damit Nahrungsmittel & Bargeld (Gold wenn möglich)«. Schließlich müsse man sich »auf alles gefaßt machen«. Tröstlich für ihn war, dass der »liebe Papa«, der im 47. Lebensjahr stand, »Gott sei Dank nicht mehr mit ins Feld« müsse.

»Die Entscheidung naht! Bis der Brief Euch erreichen wird, wird das Los entschieden sein. Nun denn, Frisch auf! Mit Gott für König & Vaterland! Es muß sein!« Diese Zeilen sind die markigsten, die in dem Brief vorkommen. Aus Theodor Körners Gedicht »Aufruf« von 1813 zitierend, versuchte Roos seinem Patriotismus Ausdruck zu verleihen. Statt Euphorie scheint bei ihm aber insgesamt die Sorge über die kommenden Ereignisse überwogen zu haben. Ein Wunsch, so bald wie möglich an die Front geschickt zu werden, ist nicht zu erkennen.

Ein Mann in Uniform sitzt auf einem Lehnstuhl

Leo Roos als Soldat, 1916-1917
Schenkung von Walter Roos
© Jüdisches Museum Berlin

Erst im Februar 1916 wurde Leo Roos zur Reserve-Fußartillerie eingezogen. Als »einjähriger Unteroffizier« kämpfte er an der Westfront und nahm an der dritten Flandernschlacht teil. Am 4. Oktober 1917 schrieb er an seine Eltern, dass er »Gott sei Dank noch gesund« sei. Es war sein letztes Lebenszeichen. Am 12. des Monats wurde er durch ein Artilleriegeschoss tödlich verletzt. Der Leutnant und Batterieführer teilte den Hinterbliebenen mit, dass Leo Roos den »Heldentod gestorben« sei.

Sein jüngerer Bruder Julius, der sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls als Soldat in Flandern aufhielt, wusste die traurige Nachricht nicht, als er am 15. Oktober zu einem Überraschungsbesuch aufbrach. Zu einem freudigen Wiedersehen kam es nicht. Julius Roos besuchte stattdessen das frische Grab Nr. 280 auf dem Soldatenfriedhof in Beveren.

Jörg Waßmer, Archiv

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