Veröffentlicht von am 12. April 2016 0 Kommentare

Erinnerung per Post

Shira Wachsmann thematisiert in ihrer Kunst den fast vergessenen Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia

Porträt von Shira Wachsmann in ihrem Atelier

Die Künstlerin Shira Wachsmann in ihrem Atelier
CC-BY Saro Gorgis

Die Straßen in Kreuzberg sind an diesem grauen Februartag nassgeregnet. Shira Wachsmann, eine zierliche junge Frau mit kurzem, schwarzem Haar, führt mich in ihr Atelier in einer Altbauwohnung. Ihre Zeit ist knapp. Denn am 13. März 2016 eröffnet Wachsmann »Tribe Fire«, eine Solo-Ausstellung in der Galerie cubus-m in Schöneberg, die dort noch bis zum 23. April zu sehen ist (mehr Informationen auf der Website der Galerie cubus-m). Im Atelier hängen große Zeichnungen, die später Teil der Installation werden. »Es gibt noch viel zu tun«, erklärt die gebürtige Israelin.

Auf dem Schreibtisch liegt ihr neustes Kunstprojekt, zwei Postkarten, die Wachsmann für das Jüdische Museum Berlin entworfen hat. Sie sind in einer Auflage von je 400 Stück seit dem 1. April 2016 im Kunstautomaten in der Dauerausstellung des Museums käuflich zu erwerben (mehr Informationen zum Kunstautomaten auf unserer Website). Wachsmann nimmt in einem grünen Sessel Platz und betrachtet die Karten. Sie zeigen zwei kreisrunde Motive, eine Form, die sich wie ein Grundgedanke durch das Werk der Künstlerin zieht. Hier stellen sie einen abstrakten Diamanten und eine schwarze Sonne dar.

Postkarte mit einem stilisierten Diamanten auf weißem Untergund und der Unterschrift "Liebe Grüße aus Namibia"

Shira Wachsmann: Liebe Grüße aus Namibia, Postkarte, 2015; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

»Meine Beschäftigung mit dem Kreismotiv begann 2012, als ich in einem israelischen Antiquariat eine Landkarte von Palästina aus der britischen Mandatszeit fand«, erinnert sie sich und weist auf den kopierten Plan. Jüdische Ortschaften wurden darauf in den 1950er-Jahren violett eingekreist, besiegte oder verlassene arabische Dörfer eingeklammert. Der Kreis veranschaulicht Zugehörigkeit und zugleich Abgrenzung, er symbolisiert Ewigkeit und Exklusivität. »Die zionistische Bewegung kann als eine koloniale Bewegung interpretiert werden«, sagt Wachsmann und weiß um die provokative Wirkung dieser These. Sie selbst wuchs in einem Dorf in Galiläa an der Grenze zum Libanon auf. Eigens von den jüdischen Einwanderern gepflanzte Kiefernwälder ahmen dort eine europäische Landschaft nach. Ruinen von verlassenen arabischen Dörfern prägen Wachsmanns Kindheitserinnerungen. Seit sie in Berlin lebt, betrachtet sie ihr Heimatland mit größerem Abstand.

Shira Wachsmann reflektiert über Kolonialismus und Vertreibung längst nicht mehr nur mit Bezug auf Israel. In ihren Werken für den Kunstautomaten im Jüdischen Museum Berlin beschäftigt sie sich mit dem Genozid an den Herero zwischen den Jahren 1904 und 1908, verantwortet durch das Deutsche Kaiserreich. Dieser markierte den Höhepunkt des kolonial-imperialistischen Weltmachtstrebens.

Rückseite der Postkarte mit der Aufschrift "'wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.' Bernard von Bülow, 1897" sowie der Abbildung eines Totenschädels anstelle einer Briefmarke

Rückseite der Postkarte; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Auch die Zustandsform des Materials, mit dem sie sich beschäftigt, hat sich verändert. Angefangen hat sie mit Kohle, einem archaischen Element und Überrest kreisrunder Lagerfeuerversammlungen. Schließlich wandte sie sich dem Diamanten zu, einer Modifikation des Kohlenstoffs. Mit dem farblosen Kristall assoziiert sie die koloniale Ausbeutung Südwestafrikas, des heutigen Namibias. »Liebe Grüße aus Namibia« hat Wachsmann handschriftlich jeweils unter die Motive auf die Postkarten geschrieben. Dreht man den Gruß um, kann man auf der Rückseite ein Zitat des damaligen Staatssekretärs des Äußeren und späteren Reichskanzlers, Bernhard von Bülow (1849–1929), lesen: »Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« An die Stelle der Briefmarke hat Wachsmann einen Totenkopf gesetzt. Das Deutsche Afrika-Korps sendete damals Grüße mit Postkarten in die ferne Heimat. Die kolonialen Machthaber gebärdeten sich darauf als Eroberer, Bilder zeigen sie mit gefangenen Herero oder mit Totenschädeln.

Postkarte mit einem schwarzen Kreis auf weißem Untergund und der Unterschrift "Liebe Grüße aus Namibia"

Shira Wachsmann: Liebe Grüße aus Namibia, Postkarte, 2015; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Ganz bewusst hat Wachsmann für den Kunstautomaten im Jüdischen Museum Berlin ein Thema gewählt, das vielleicht nicht unmittelbar mit dem Judentum verknüpft wird. »Der Holocaust an den europäischen Juden überdeckt insbesondere in Israel und Deutschland alle Erinnerungen an weitere Gräueltaten, die in der Geschichte stattgefunden haben. Kenntnisse über den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, bei dem achtzig Prozent der Herero und fast die Hälfte der Nama getötet wurden, sind in der deutschen Gesellschaft so gut wie nicht vorhanden.« Der Völkermord an den Herero wird erst seit Sommer 2015 von der Bundesregierung offiziell als solcher bezeichnet. Die deutsche Kolonialgeschichte bleibt in deutschen Schulbüchern ein Randthema.

»Das Schöne am Kunstautomaten ist, dass man nie weiß, was man bekommt«, sagt Wachsmann und lächelt verschmitzt. Die Geschichte der Herero wird sie bald mit ahnungslosen Besucherinnen und Besuchern teilen können. »Meine Postkarten sind auf den ersten Blick schön, sie bieten sich als Souvenir an.« Will man die Karten verschicken, muss man jedoch zunächst den Totenschädel mit einer deutschen Briefmarke überkleben: ein Verweis auf die Verdrängung des Genozids in Afrika aus dem kollektiven deutschen Gedächtnis.

In das Werk der Künstlerin einführen ließ sich Saro Gorgis, die bereits einen gespannten Blick in Shira Wachsmanns laufende Solo-Ausstellung werfen durfte.

Mehr Informationen zu Shira Wachsmann auf ihrer Website http://shirawachsmann.com.

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