Namen werden lebendig

Schwarz-Weiß-Fotografie eines älteren Ehepaares, das sich gegenseitig den Arm umgelegt hat

Emanuel und Johanna Stern, um 1903; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Alexander Summerville

Vor etwas mehr als zwei Jahren schrieb ich hier im Blog über eine Pessach Haggada, die ich online erworben hatte. Sie hatte wegen einer Namensliste auf den Umschlaginnenseiten meine besondere Aufmerksamkeit erregt. Darin sind alle Personen verzeichnet, die über sieben Jahre hinweg an Pessach-Sederabenden in zwei Wohnungen in direkter Umgebung unseres Museums teilgenommen hatten. Eingehende Recherchen brachten zahlreiche Informationen zu vielen der erwähnten Personen zutage, und mein Blogtext schloss damals mit der Hoffnung, Nachfahren der aufgelisteten Personen ausfindig zu machen.

Ende März dieses Jahres flog ich nun nach Stockholm, um Alexander Summerville zu besuchen. Er ist der Urenkel von Paul Aron, in dessen Wohnung in der Hedemannstraße 13/14 in fünf der in der Haggada verzeichneten Jahren Pessach-Sederabende abgehalten wurden. Ich hatte Alexanders Namen über zwei andere Urenkelinnen Paul Arons erhalten, die ich zuvor kontaktiert hatte und die ich ebenfalls während meines Kurzaufenthalts in der schwedischen Hauptstadt treffen konnte.

Bürger-Brief mit Unterschriften, in dem der "Ober-Bürgermeister, Bürgermeister und Rath der Königlich Preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin" Samuel Aron zum Bürger mit ihm zustehenden Rechten erklären.

Bürgerbrief für Samuel Aron, Berlin 1847; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Alexander Summerville, Foto: Steffen Engelmann

Obwohl ich im Vorfeld meiner Reise mit Alexander korrespondiert und auch persönlich mit ihm gesprochen hatte, war ich vom Umfang und Reichtum seiner Familiensammlung überrascht: Sie enthält Gemälde seiner Vorfahren, Tischdecken, Kleidungsstücke und sonstige Accessoires, Bücher, Flugschriften sowie eine große Anzahl von Dokumenten und viele Fotografien. Zu neun von den elf Personen, die in der Namensliste am häufigsten auftauchen, sind in der Sammlung Dokumente und/oder Fotografien erhalten: zu Emanuel Stern, dem Besitzer einer großen Konfektionsfirma in Aachen, und seiner Frau Johanna geb. Leven, die jährlich nach Berlin reisten, um Pessach mit ihrer Tochter Anna Aron, deren Ehemann Paul und den Kindern Lilly und Kurt zu feiern. Einigen Sederabenden wohnten auch Jenny Friedländer, die älteste Stern-Tochter, mit ihrem Ehemann Paul und ihrer Tochter Liesel bei, wie auch Johanna Sterns Schwester, Caroline Salomon, und deren Mann Rudolph, bei dem zu Hause man in den früheren Jahren Pessach gefeiert hatte.

Eine handschriftliche Urkunde auf einem Blatt mit Säulenornamenten mit hebräischen Buchstaben darauf.

Konfirmationsschein für Anna Stern, Aachen 1879 mit späterem Eintrag zur Konfirmation ihrer Tochter Lilly Aron, Berlin 1905; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Alexander Summerville, Foto: Steffen Engelmann

Das archivalische Material, das zum Vorschein kam und viele der in der Haggada aufgelisteten Namen ein Stück weit lebendig werden lässt, enthält zum Beispiel den Bürgerbrief für Samuel Aron aus dem Jahre 1847, eine jüdische »Konfirmationsurkunde« für Anna Stern, die 1879 in Aachen ausgestellt wurde, die Einladungskarte zu ihrer Hochzeit mit Paul Aron 1888, eine kleine Schiefertafel, die Kurt Aron während seiner Schulzeit benutzte, und eine Urkunde, mit der Liesel Friedländer für ihren Dienst als Hilfsschwester während des Ersten Weltkrieges ausgezeichnet wurde.

Eine schwarze Tafel mit Holzrahmen, auf dem K. ARON steht.

Schreibtafel von Kurt Aron, Berlin, ca. 1903; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Alexander Summerville, Foto: Steffen Engelmann

Ein umfangreicher Teil der Papiere betrifft den beruflichen Werdegang des Lehrers Kurt Aron, bis zu seiner Entlassung aus dem öffentlichen Schuldienst 1933 und seiner Anstellung an verschiedenen Jüdischen Schulen in Berlin, sowie seine intensiven, aber letztlich erfolglosen Bemühungen, Deutschland Ende der 1930er-Jahre zu verlassen. Dokumentiert ist auch die Weigerung der Nationalsozialisten, im Sommer 1942 ein Wiedersehen von Anna Aron mit ihrer Tochter Lilly zu ermöglichen, obwohl ein Visum der Schwedischen Regierung gewährt war. Ungeachtet der Tatsache, dass ihr Sohn Kurt in einer sogenannten privilegierten Mischehe lebte, wurde dieser im Dezember desselben Jahres nach Auschwitz deportiert und dort ermordet – auch dazu finden sich Dokumente. Ich verbrachte zwei volle Tage damit, die Familiensammlung zu sichten und das Material durchzugehen, begleitet von einem Wechselbad der Gefühle: Freude, Überraschung, Fassungslosigkeit und Trauer.

Einladungskarte für Herrn David Salomon, mit Blumenornament und Foto des Brautpaars

Karte zur Vermählungsfeier von Anna Stern und Paul Aron, Aachen 1888; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Alexander Summerville, Foto: Steffen Engelmann

Kurz nach meinem Besuch überließ Alexander Summerville den Großteil der Dokumente und Fotografien, die zur Familiensammlung Aron und Stern gehören, dem Jüdischen Museum Berlin, das sich in weniger als einem Kilometer Entfernung von dem Ort befindet, an dem sein Urgroßvater mit seinen Familienangehörigen einst Pessach feierte. Hier wird sie inventarisiert und dann sowohl in unseren Ausstellungen und im pädagogischen Archivprogramm präsentiert als auch externen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich gemacht. Die Sammlung ist eine bedeutsame und sehr willkommene Ergänzung unserer Bestände. Wir möchten Herrn Summerville herzlich für seine großzügige Schenkung danken.

Aubrey Pomerance, der unseren Leserinnen und Lesern Chag Pessach Sameach wünscht!

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