Veröffentlicht von am 29. April 2016 0 Kommentare

Im Schatten des Mengele-Mythos

Porträtfotografien von Noga Shtainer

Portrait von Noga Shtainer

Noga Shtainer während eines Künstlergesprächs anlässlich ihrer Ausstellung in Berlin 2015 © Noga Shtainer

Noga Shtainer war mit ihrer Kamera schon häufig auf Reisen, zum Beispiel für ihre Fotoprojekte »Home for Special Children« in der Ukraine oder »Twins« in Brasilien. Aufnahmen aus diesem Projekt sind seit dem 1. April 2016 im Kunstautomaten in der Dauerausstellung zu erwerben (mehr Informationen auf unserer Website). Seit 2010 lebt die Fotografin in Berlin, wo ich sie vor zwei Jahren kennengelernt habe (mehr dazu in meinem Blogbeitrag vom Mai 2015).

Dass Noga Shtainer Fotografin ist, ist Zufall, denn eigentlich wollte sie Schauspielerin werden. Doch die Aufnahmeprüfung an der WIZO Kunstschule in Haifa bestand sie nicht. Stattdessen wurde ihr empfohlen, sie solle sich für die Fotoklasse bewerben. Zur Einreichung der Bewerbungsmappe blieben Noga allerdings nur zwei Tage Zeit. Daher reichte sie in einem einfachen Umschlag Fotografien ein und gab vor, es seien Aufnahmen, die sie von ihrer Halbschwester gemacht habe. Tatsächlich waren es Aufnahmen aus dem Familienalbum, die Noga Shtainer selbst in jungen Jahren zeigen. Der Coup gelang und Noga Shtainer wurde mit gerade einmal 15 Jahren an der Kunstschule akzeptiert. So begann ihre Laufbahn als Fotografin.

Schwarz-weiß Portrait von Zwillingsmädchen mit langen Haaren und Sommersprossen

Luana und Juliana, 2010, aus der Serie »Twins – Duo Morality« © Noga Shtainer

Die Porträtfotografien von Noga Shtainer zeichnen sich durch Hingabe und Intensität aus. Das sieht man auch in der Reihe »Twins – Duo Morality«: Die Ähnlichkeit zwischen zwei genetisch identischen Menschen und das gleichzeitige Verlangen der Außenstehenden, sie unterscheiden zu wollen, machte die Fotografin neugierig. Und so begann Noga Shtainer schon in Israel, das Ungleiche im Gleichen fotografisch festzuhalten. 2010 folgte sie dann einer merkwürdigen Spur in der dunklen Geschichte des Rassenwahns nationalsozialistischer Ideologien: In Cândido Gódoi im Süden Brasiliens soll die ungewöhnlich hohe Dichte an Zwillingsgeburten mit den Versuchen von Josef Mengele in Verbindung stehen. Die Kleinstadt besteht überwiegend aus deutschen und polnischen Auswanderern und ihren Nachfahren, die sich während des Ersten Weltkrieges im Süden Brasiliens ansiedelten. In der Nähe soll Josef Mengele in den 1960er-Jahren gelebt und unbehelligt unter anderem Namen als Arzt praktiziert haben. Er hatte an jüdischen Gefangenen in Auschwitz brutale medizinische Versuche durchgeführt, darunter zahlreiche barbarische Experimente an Zwillingen. Die Ergebnisse soll er dann für diverse Behandlungen von Patienten in Brasilien genutzt haben. Angeblich in Folge wurden dort ungewöhnlich viele eineiige Zwillinge geboren. Diese Geschichte ist weder historisch zu belegen noch sprechen genügend Evidenzen für genmanipulierte Schwangerschaften in dieser Stadt. Lediglich die vielen blonden und blauäugigen Zwillingspaare lassen den Mengele-Mythos weiterleben und beflügeln noch immer die Fantasie von Autoren, Filmemachern und Journalisten.

Als Noga Shtainer in Cândido Gódoi ankam, musste sie zunächst nach ihren Fotomodellen suchen, denn Zwillinge treten natürlich nicht immer im Doppelpack auf. Eine Zeit intensiver Recherche, der Gang von Tür zu Tür und eifrige Nachbarschaftsanfragen folgten, bis Noga 50 Zwillingspaare fand, die auch bereit waren, sich fotografieren zu lassen.

Vier fast identische schwarz-weiß Fotografien von zwei Mädchen

Tamara und Samara, 2010, aus der Serie »Twins – Duo Morality«, Sonderanfertigung für den Kunstautomaten im Jüdischen Museum Berlin; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Noga Shtainer

Noga Shtainers Intention, der Spur dieser Geschichte auf den Grund zu gehen, wurde zweitrangig gegenüber der Aussage der Porträtfotografien, denn im Vordergrund steht etwas anderes: Wir sehen Zwillinge in ihrem Wohnumfeld, im Garten oder auf der Veranda, die fast identisch aussehen und sich erst bei einem genauen Vergleich unterscheiden. Als Betrachterin der Fotografien ertappe ich mich, dass ich mich jedes Mal freue, wenn ich ein Merkmal zur Unterscheidung gefunden habe. Mal sind es die Haare, dann die Figur oder doch der leichte Unterschied der Nasen, der Augen oder eines Muttermals. Man trainiert, genauer hinzuschauen und die Details zu erkennen, die Umgebung und die Position beider Personen im Bild zu vergleichen und vielleicht auch deren Beziehung zueinander zu hinterfragen. Bei näherer Betrachtung werden die Porträtierten vertrauter, die augenscheinliche Übereinstimmung verschwindet vor der Erkenntnis, dass jeder Zwilling individuell ist.

Vier fast identische Farbfotografien von zwei älteren Männern mit Schnurrbart

Noga Shtainer: Norbert und Nelson, 2010, aus der Serie »Twins – Duo Morality«, Sonderanfertigung für den Kunstautomaten im Jüdischen Museum Berlin; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Claudia Rannow

Für den Kunstautomaten in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin hat sich Noga Shtainer auf ein Experiment eingelassen und zeigt ihre Arbeiten in einem ungewöhnlichen Format. Normalerweise präsentiert sie ihre Arbeiten in wandfüllender Größe, was für den doch recht kompakten Automaten und seine Kunstschätze nicht machbar gewesen wäre. Aber sie ließ sich auf die Herausforderung ein und zeigt ihre Arbeiten entsprechend kleiner, dafür in vierfacher Ausführung – quasi passend zum Motto – als Zwillingsserie. Wenn man zum Beispiel das Zwillingspaar Nelson und Noberto beobachtet, wie sie mit ihren wilhelminischen Schnurrbärten am Gartenzaun die richtige Position für ein gelungenes Foto suchen, wirken die handsignierten Exemplare wie kleine Bildergeschichten.

Übrigens fotografierte Noga Shtainer nach ihrem geglückten Coup zur Aufnahme an der Akademie tatsächlich ihre Halbschwester. Zwölf Jahre lang machte sie an jedem Schabbat eine Aufnahme von Ella für die Serie »Near Conscious«. Es entstanden intensive Bilder eines heranwachsenden jungen Mädchens. Inzwischen wird Noga Shtainer von einer der bekanntesten Galerien in Israel vertreten und auch in Berlin stellte sie bis Mitte Februar dieses Jahres ihre Fotoserien »Wagenburg« und »Near Conscious« aus. Von Noga Shtainer werden wir sicherlich noch hören, wie bereits ein Artikel in der Jüdischen Allgemeinen zu einem neuen Foto-Projekt erahnen lässt.

Jihan Radjai staunt selbst über die Ähnlichkeit ihrer Zwillingsnichten und hat Nogas Ausstellung in der Berliner Galerie Podbielski Contemporary kuratiert.

Mehr über Noga Shtainer auf ihrer Website www.artnoga.com und auf der Website der Galerie Podbielski Contemporary.

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