Leben im Untergrund

Dritte Episode unserer Blogserie »Erinnerungen aus dem Leben Walter Frankensteins«

»Die und keine andere«, beschloss Walter Frankenstein, als er seine zukünftige Frau Leonie zum ersten Mal auf dem Hof des Auerbach´schen Waisenhauses sah. Leonie Rosner stammte aus Leipzig und hatte in Berlin eine Ausbildung am jüdischen Kindergärtnerinnen*-Seminar begonnen, ehe sie nach dessen Schließung als Praktikantin an das Auerbach´sche Waisenhaus kam.

Schwarz-weiß-Fotografie

Leonie Frankenstein mit ihrem Sohn Peter-Uri auf einer Wiese sitzend, Briesenhorst Mai 1944; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein

Leonies Zimmer avancierte bereits kurz nach ihrer Ankunft zum Treffpunkt für die Lehrlinge, die im Waisenhaus wohnten. Bei Gesprächen über Religion, das Judentum, die Auswanderung nach Palästina und ihren Alltag kamen sich der 17-jährige Walter und die drei Jahre ältere Leonie näher. Nachdem Leonie von der Direktorin aufgrund ihres Verhältnisses zu einem Zögling die Kündigung angedroht worden war, beschloss das junge Paar im Herbst 1941 »das Auerbach« zu verlassen. Walter und Leonie zogen zur Untermiete in ein Zimmer bei Familie Mendel im Prenzlauer Berg. Bereits kurz darauf entschlossen sie sich zu heiraten. Sie hatten gehört, dass Ehepaare von der Deportation verschont bleiben würden. Die Hochzeit, für die der minderjährige Walter das Einverständnis seiner Mutter hatte einholen müssen, fand am 10. Februar 1942 statt.

Walter Frankenstein verdiente zu diesem Zeitpunkt seinen Lebensunterhalt als Handwerker bei der Jüdischen Gemeinde, nachdem die jüdische Bauschule 1941 geschlossen worden war. Als Angestellter der Gemeinde musste er Zwangsarbeit leisten, die ihn eines Tages auch an den Dienstsitz von Adolf Eichmann in der Kurfürstenstraße führte. »Ein Fleck und du bist morgen in Auschwitz«, drohte der SS-Obersturmbannführer, als Walter in Eichmanns Arbeitszimmer eine Telefonleitung verputzte.

Auch Leonie Frankenstein litt unter Zwangsarbeit. Sie war bereits kurz nach der Heirat schwanger geworden und zum Dienst in einer Fabrik für Fesselballons abgestellt worden. In der Fabrik roch es unerträglich stark nach Leim. Regelmäßig fiel Leonie bei der Arbeit in Ohnmacht. Sie bat die Aufseherin darum, verlegt zu werden und kam in eine Fabrik für Transformatoren-Spulen. Dort arbeitete sie bis eine Woche vor der Geburt ihres Sohnes Uri Frankenstein am 20. Januar 1943. Uri erblickte im Jüdischen Krankenhaus das Licht der Welt und wurde gegen den Willen seiner Eltern beschnitten. Leonie und Walter fürchteten, dass ihr Kind so leicht als jüdisch identifizierbar wäre.

Anfang des Jahres 1943 wurde die Situation für Jüdinnen*Juden in Deutschland immer gefährlicher. Die Deportationen der deutschen Jüdinnen*Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten waren bereits weit vorangeschritten. Wie gefährlich die Situation für seine Familie war, offenbarte sich Walter eines Morgens Ende Februar 1943: An seiner Arbeitsstelle am Bayerischen Platz in Berlin-Schöneberg fand er lediglich einen Gestapobeamten vor. Keiner seiner Kollegen* erschien. Von dem Beamten erfuhr er, dass sie in der Nacht zuvor deportiert worden waren. Als der Aufseher Erkundigungen einholte, wie nun mit Walter zu verfahren sei, floh Walter kurzerhand. Nachdem auch Leonie mit ihrem sechs Wochen alten Sohn nur knapp einer Einberufung in das Sammellager Große Hamburger Straße entgangen war, beschloss die Familie, dass der Gang in den Untergrund die einzige Möglichkeit war zu überleben.

Schwarz-weiß-Fotografie

Leonie Frankenstein hält ihren Sohn Peter-Uri an den Händen, Briesenhorst 1944; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein

Als Leonie 1944 zum zweiten Mal schwanger wurde, meldete sie sich unter falscher Identität bei einer Ausgebombtenstelle. Gemeinsam mit Uri schickte man sie als »deutsche Mutter« nach Briesenhorst. Dort lebte sie das Frühjahr und den Sommer über bei einer Bäuerin und deren Tochter. Aus dieser Zeit stammen auch die einzigen überlieferten Fotografien zum Leben der Familie Frankenstein in der Illegalität. Sie zeigen Leonie und Uri auf dem Hof der Bäuerin. Ende September setzten bei Leonie die Wehen ein. Sie musste sich in ein Krankenhaus in Landsberg an der Warthe begeben und dort nach der Geburt ihres Sohnes Michael am 26. September 1944 aufgrund einer Entzündung drei weitere Wochen bleiben. Stets dachte sie daran, dass Uri beschnitten und damit für die Bäuerin klar als jüdisches Kind erkennbar war. Als sie jedoch zum Hof zurückkehrte, fand sie Uri wohl genährt und versorgt vor. Die Bäuerin verlor kein Wort über die Herkunft des Jungen und seiner Mutter.

Auch Walter hatte einige Male großes Glück. So fuhr er 1944 nach einer weiteren Nacht in einer ausgebombten Ruine mit der S-Bahn. Üblicherweise blieb er wegen der Kontrollen immer an der Tür stehen. Nun aber war er sehr müde, setzte sich hin und nickte ein. Er wurde erst wach, als ein sogenannter »Kettenhund« vor ihm stand und seine Ausweispapiere verlangte. Walter gab mit gefälschtem Akzent an, dass er ein ausländischer Zwangsarbeiter sei und seinen Ausweis in der Arbeitskleidung vergessen habe. Der Offizier schlug daraufhin vor, am Bahnhof Friedrichstraße auszusteigen. Dort wollte er sich auf einem Polizeirevier telefonisch bei Walters angeblichem Arbeitgeber nach dessen Identität erkundigen. Nachdem beide ausgestiegen waren, sah Walter keinen anderen Ausweg, als dem Offizier zu gestehen, dass er Jude sei, illegal in Berlin lebe und falls er nun verraten werden würde, am Tag darauf nach Auschwitz deportiert werden würde. Nach kurzer Überlegung ließ der Kettenhund Walter schließlich mit den Worten:»Verschwinde, ich suche keine Juden, ich suche Deserteure«, gehen.

Die beiden Geschichten sind nur zwei Beispiele dafür, wie Walter, Leonie, Uri und Michael die Zeit in der Illegalität überstanden. Am 27. April 1945 erlebten alle vier Frankensteins die Befreiung durch die sowjetische Armee. Ihr Schrecken und ihre Angst hatten ein Ende – nun lag eine ungewisse Zukunft vor der Familie.

Anna Rosemann erfuhr durch Walter Frankenstein, wie es ist, wenn Unauffälligkeit zur Überlebensstrategie wird.

 

Weitere Fotografien aus dem Leben der Familie Frankenstein finden Sie in unseren Online-Sammlungen.

Wenn Sie tiefer in Walter und Leonie Frankensteins Biografie eintauchen möchten, empfiehlt sich das Buch Nicht mit uns – Das Leben von Walter und Leonie Frankenstein von Klaus Hillenbrand, das 2008 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen ist.

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