Der Golem lebt

Einleitung zu Kapitel 1 des Ausstellungskatalogs GOLEM

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Martina Lüdicke

Was sind die Golems von heute? Als Metapher der Gegenwart steht der Golem für Technologien, die ihrem Schöpfer entgleiten und zur Bedrohung werden. Wie verändern Robotik, Genforschung oder Transhumanismus unseren Alltag? Sind Androide, Klone oder Cyborgs schon jetzt die perfekteren Versionen des Menschen? Treffen wir unsere Entscheidungen noch selbst oder bestimmen Algorithmen – gefüttert mit der Big Data unserer Telefone – Konsum, Sozialkontakte und Lebensentwurf?

Die Analogie von Golem und Maschine ist nicht neu. 1965 bittet das Weizmann Institut den Kabbala-Gelehrten Gershom Scholem, die Eröffnungsrede zur Einweihung eines neuen Großcomputers zu halten. Scholem gibt der künstlichen Intelligenz den Namen „Golem Aleph“. Den neuen Golem vergleicht er mit seinem Prager Vorfahren:

„Alle Welt ergeht sich in Spekulationen darüber, wie es mit den fortgeschritteneren Formen des Golem gehen wird. Vorerst scheint es jedoch, dass wir uns noch für lange Zeit mit einem Golem abfinden müssen, der nur tut, was man ihm sagt, und keine eigene Initiative entwickelt. […] So gebe ich denn auf und sage nur zum Golem und seinem Schöpfer: Entwickelt euch friedlich und zerstört die Welt nicht. Schalom.“

Golems, die längst nicht mehr nur tun, was ihre Schöpfer ihnen sagen, haben die Macher der britischen Fernsehserie Humans (2015) entworfen. In ihrer radikalen Welt der Zukunft leben humanoide Roboter Seite an Seite mit ihren menschlichen Eigentümern. Die sogenannten Synths dienen als Babysitter, Altenpfleger oder Sexarbeiter. Im Dialog mit ihrem menschlichen Gegenüber spricht der Humanoid Anita über die Grenzen von Mensch und Maschine:

„In vielerlei Hinsicht kann ich mich besser um deine Kinder kümmern als du, Laura. Ich vergesse nichts. Ich werde nicht wütend oder depressiv oder betrinke mich. Ich bin schneller, stärker und aufmerksamer. Ich habe keine Angst. Und doch kann ich sie nicht lieben.“

Ihre künstliche Intelligenz soll das Alltagsleben erleichtern, doch wer Maschine und wer Mensch ist, bleibt vage: Die künstlichen Geschöpfe entwickeln Bewusstsein, speichern Erinnerungen, empfinden Aggressionen oder Empathie.

Eine reale Golem-Variante kommt am 5. Juli 1996 zur Welt: Das Schaf Dolly ist das erste aus einer einzelnen Zelle geklonte Säugetier. Um das gentechnisch erzeugte Wesen entbrennt eine Kontroverse, nicht nur unter Naturwissenschaftlern. Schon bald kreisen die Debatten weniger um das serielle Herstellen von landwirtschaftlichen Nutztieren als um das Klonen von Menschen. Kommentatoren vergleichen das Klon-Schaf mit Frankensteins Monster. Die Hybris des Menschen, der sich selbst zum Schöpfer erklärt, löst Urängste aus. Die Debatte um künstlich hergestelltes und manipuliertes Leben setzt sich im Juni 2000 mit der Entzifferung des menschlichen Genoms aus den Buchstaben AGTC fort: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott Leben erschaffen hat“, verkündet der amerikanische Präsident Bill Clinton, als die Forschungsergebnisse im Weißen Haus der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der menschliche Bauplan aus Milliarden von Buchstaben scheint das Geheimnis des Lebens offen zu legen. Zwar können heute alle für wenige hundert € ihr eigenes Genom in den Händen halten, doch haben sich weder die damit verbundenen Hoffnungen erfüllt, noch sind die Befürchtungen Wirklichkeit geworden.

Der moderne Golem steht für die Ambivalenz von Hoffnung, Skepsis und Gefahr; seit den 1970er Jahren auch im Kosmos der Spielwelt. Zum ersten Mal tauchen Golem-Nachfahren im Rollenspiel Dungeons & Dragons auf. Als Fleisch-, Eisen- oder Steingolems greifen sie zunächst noch analog in das Spielgeschehen ein, später bevölkern mächtige Kraftpakete als Golem-Avatare digitale Welten wie Minecraft oder Clash of Clans. Am Computer, auf Spielkonsolen und Tablets gehorchen Flammen-, Edelstein- oder Chaosgolems den Befehlen ihrer Schöpfer, und in allen schlummert das Potenzial, außer Kontrolle zu geraten. Das jüngste Beispiel für einen imaginierten Retter mit drohendem Kontrollverlust kommt allerdings aus der realen Welt: Während seine Anhänger in ihm den Heilsbringer zu erkennen glauben, wird der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump auf Twitter und in politischen Kommentaren zum Golem von heute erklärt, „geschaffen aus gefälschten Rolex-Uhren und schlechten Hitler-DVDs und losgerissen von der Kontrolle seiner Schöpfer.“

Martina Lüdicke ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin am Jüdischen Museum Berlin. Als Kuratorin arbeitete sie an den Ausstellungen Weihnukka, Heimatkunde, Die ganze Wahrheit... was Sie schon immer über Juden wissen wollten und Haut ab! haltungen zur rituellen Beschneidung.

Citation recommendation:

Martina Lüdicke (2016), Der Golem lebt. Einleitung zu Kapitel 1 des Ausstellungskatalogs GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4682

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