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„Polen­aktion“ (1938)

Ende Oktober 1938 ließ das NS-Regime rund 17.000 im Deutschen Reich lebende Jüdinnen*Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaften, ausweisen und gewaltsam zur polnischen Grenze verbringen. Diese als „Polenaktion“ bezeichnete Zwangsausweisung war die erste Massendeportation von Jüdinnen*Juden aus dem Deutschen Reich.

Ihre Vorgeschichte beginnt im Frühjahr 1938 mit der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich: Seitens der polnischen Regierung wurde nun befürchtet, dass es zu einer massenhaften Rückkehr von Jüdinnen*Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aus Österreich nach Polen kommen könnte, mit dem Ziel, dort Schutz vor drohender antisemitischer Verfolgung zu suchen. Das polnische Parlament verabschiedete deshalb ein Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürger*innen, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland gelebt hatten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Am 9. Oktober 1938 verfügte die polnische Regierung für alle im Ausland ausgestellten Pässe, dass sie ab dem 30. Oktober nur noch mit einem Sichtvermerk des polnischen Konsulats gelten sollten.

Die deutsche Regierung sah in der Maßnahme der polnischen Regierung eine Gefährdung ihrer eigenen Pläne zur Ausweisung ausländischer Jüdinnen*Juden. Jüdinnen*Juden osteuropäischer Herkunft, pejorativ als „Ostjuden“ bezeichnet, traf von Anfang an eine noch ausgeprägtere Feindseligkeit seitens des NS-Regimes. Am 26. Oktober forderte die deutsche Regierung Polen ultimativ auf, ihre Verfügung zurückzunehmen, da man sonst die polnischen Staatsbürger*innen aus Deutschland abschieben werde, bevor diese Regelung in Kraft trete. Einen Tag später wies das Reichssicherheitshauptamt mit einem Rundschreiben alle Stapo-Stellen im Land an, „alle polnischen Juden, die im Besitz gültiger Pässe sind, sofort […] in Abschiebehaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze im Sammeltransport abzuschieben“.

Am 28. und 29. Oktober 1938 wurde die Verhaftungsaktion im gesamten Reich durchgeführt. Rund 17.000 Menschen Jüdinnen*Juden polnischer Staatsangehörigkeit wurden in ihren Wohnungen festgenommen und zunächst in Gefängnissen und Sammellagern interniert. Die Durchführung der Aktion erfolgte in den einzelnen Ländern regional unterschiedlich, manchmal wurden ganze Familien mitgenommen, manchmal nur männliche Familienmitglieder verschleppt. Die Verhaftung kam für die Betroffenen vollkommen überraschend. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen. In bewachten Sonderzügen transportierte die Reichsbahn sie anschließend an die deutsch-polnische Grenze. Die meisten wurden zur Grenzstadt Neu-Bentschen/Zbąszyń verbracht, andere nach Konitz (Pommern) oder Beuthen (Oberschlesien).

Vergilbtes maschinenbeschriebenes Blatt mit einigen handschriftlichen Ergänzungen und Stempeln

Dieser Abschiebungsbescheid wurde vom Polizeipräsidenten Berlin ausgestellt und enthält die Aufforderung an Meilech Wolkenfeld (1893–1954), das Reichsgebiet innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Das Schreiben wurde ihm am 28. Oktober 1938 in Berlin vorgelegt, anschließend wurde er sofort verhaftet und mit vielen anderen an die polnische Grenze deportiert; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/263/14, Schenkung von Jack Wolkenfeld. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Der erste Transport konnte die Grenze noch passieren, weil die polnischen Grenzbehörden völlig überrascht waren. Später verweigerten sie die Einreise. Die deutschen Polizisten und Wachleute trieben die ausgewiesenen Jüdinnen*Juden daraufhin zu Fuß über die Felder in das Niemandsland im Grenzbereich.

Die Bedingungen vor Ort in Zbąszyń waren vor allem in den ersten Tagen und Wochen katastrophal. Allmählich entstand ein Auffanglager mit Notunterkünften, in denen mehr als 8.000 Menschen teilweise monatelang festsaßen. Jüdische Hilfsorganisationen, wie z. B. das American Joint Distribution Committee, unterstützten sie.

Zu den Ausgewiesenen zählte die Familie Grynszpan aus Hannover, die ihrem Sohn Herschel in Paris eine Nachricht schickte. Aus Protest gegen die „Polenaktion“ verübte der 17-Jährige daraufhin am 7. November 1938 ein Attentat auf der deutschen Botschaft in Paris, das die Nationalsozialist*innen wiederum als Vorwand für die Novemberpogrome nutzten.

Einigen Ausgewiesenen erlaubte das NS-Regime schließlich die vorübergehende Rückkehr nach Deutschland, um ihren Besitz zu verkaufen und ihre Emigration ins Ausland zu organisieren. Anderen gestatteten die polnischen Behörden die Weiterreise ins Landesinnere Polens, sofern sie dort Verwandte hatten. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 fielen diese Jüdinnen*Juden erneut unter deutsche Herrschaft; nur wenige aus diesem Personenkreis überlebten die Schoa.

Ausgewaschenes Schwarz-Weiß-Foto einer Gruppe von 14 Männern und Frauen in Mänteln. Sie stehen auf einer schneebedeckten Fläche vor einem Zaun und wurden von oben fotografiert. Fast jeder schaut in die Kamera, einige lächeln.

Erwin Zimet und andere Lehrer*innen im Lager Zbaszyn, Zbaszyn (Polen) ca. November 1938 – März 1939; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2004/140/190, Schenkung von Lilli Gehr Zimet.
Weitere Informationen zu diesem Foto finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Die Sammlung des Jüdischen Museums Berlin enthält Dokumente, Fotografien und Objekte, die von der „Polenaktion“ Zeugnis ablegen, darunter z.B. polnische Reisepässe mit dem Vermerk „ungültig“, Ausweisungsbefehle, Postkarten und Briefe, die aus Zbąszyń geschrieben wurden, sowie Fotos, die im Auffanglager entstanden sind.

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