Ein Brief aus dem Museum

Gespräch mit Alex Martinis Roe

Foto der Künstlerin, sie sitzt an einem Schreibtisch in in einem ansonsten fast leeren Raum

Alex Martinis Roe, Encounters: Conversation in Practice, Performance Still, 2010.
© Alex Martinis Roe, Foto: privat

Einen Brief aus einem Automaten zu ziehen, ist ungewöhnlich. Selbst wenn es sich bei dem Automaten um einen Kunstautomaten handelt.
Die Künstlerin Alex Martinis Roe aus Australien erzählt im Interview mehr über die Beweg- und Hintergründe zu ihrem Werk »Brief an die Deutsche Post«.

Christiane Bauer: Alex, in deinem Brief an die Deutsche Post äußerst du die Bitte, Briefmarken mit den Abbildungen von Rahel Varnhagen und Hannah Arendt neu aufzulegen. Erwartest du von unseren Besuchern, die diesen Brief aus dem Automaten ziehen, dass sie ihn an die Deutsche Post schicken?

Alex Martinis Roe: Nein, überhaupt nicht, denn ich habe sie nicht darum gebeten. Sie können mit dem Brief machen, was sie wollen. Natürlich freut es mich, wenn sie ihn abschicken, aber ich freue mich ebenso, wenn sie ihn behalten (lacht). Allerdings hoffe ich, dass sie den Brief lesen und die Geschichte faszinierend finden.

Wieso hast du für den Kunstautomaten ausgerechnet einen Brief entworfen?

Der zusammengefaltete Brief © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Der zusammengefaltete Brief
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Ich habe mich für einen Brief entschieden, weil er in das Fach des Kunstautomaten passt. Ich wollte keine Miniatur schaffen, sondern in Echtgröße arbeiten. Außerdem hat mir die Vorstellung gefallen, die Geschichte von Hannah Arendt und Rahel Varnhagen so mit dem Jüdischen Museum Berlin in Verbindung zu bringen. Zwar werde ich die Deutsche Post vermutlich nicht überzeugen können, diese Briefmarken tatsächlich neu aufzulegen, aber ich fand allein schon das Konzept interessant.

Was interessiert dich an Hannah Arendts Biographie über Rahel Varnhagen und welche Verbindung knüpfst du zum Jüdischen Museum Berlin?

Was ich im Jüdischen Museum Berlin zeigen möchte, ist die Geschichte zweier Seelenverwandter. Arendt schrieb eine Biografie über Varnhagen, eine anerkannte Schriftstellerin, die, wie später Arendt selbst, durch Judenpogrome aus Berlin vertrieben wurde. Implizit zieht die Biografin dabei eine Parallele zwischen ihrem Leben und dem der Rahel Varnhagen und lässt so eine ganz besondere Beziehung entstehen. Indem sie eine Verbindung zu einer weiblichen jüdischen Intellektuellen aus einer anderen Zeit herstellt, schafft sie sich eine matrilineare Urahnin, einen genealogischen Bezug zu einer jüdischen Frau und nicht, wie unter berufstätigen Frauen sonst oft üblich, zu einem Mann. Sie bestätigt sich in ihrer Weiblichkeit und in ihrem Judentum ohne Kniefall vor der dominanten Kultur des weißen, christlichen Mannes.

Foto des aufgefalteten Briefes, unter dem Text kleben zwei Briefmarken

Der aufgefaltete Brief
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Welche Themen sind dir in deiner Arbeit besonders wichtig?

Mich interessiert die kontinentaleuropäische feministische Philosophie und ihre Spiegelung in aktuellen Kunstpraktiken. Zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler versuchen geschlechtlich markierte Sinn- und Wertsysteme zu schaffen. Damit meine ich Kulturen, die sich nicht ›universell‹ geben, als Schöpfungen ›jedermanns‹ für ›jedermann‹, sondern in denen der oder die Einzelne im Mittelpunkt steht. Diese Kulturen sind also nicht nur Frauen vorbehalten, sondern das Wichtige ist, dass sie die Unterschiede in der geschlechtlichen Verkörperung Einzelner berücksichtigen. Ganz konkret befasse ich mich momentan mit der Frage, wie man Beziehungen und Netzwerke raum- und zeitübergreifend erkennbar machen kann und wie sich die Natur/Kultur-Dichotomie aufmischen lässt, da dieses Konzept nach wie vor Gewalt gegen verschiedene Formen von Differenz auslöst, so auch gegen sexuelle Differenz.

Da es ganz unterschiedliche Definitionen von Feminismus gibt, wäre es interessant zu erfahren, was du unter dem Begriff verstehst.

Für mich ist Feminismus die friedlichste Revolution, die je stattgefunden hat und weiterhin stattfindet. Feminismus verändert nicht nur die Struktur einer Gesellschaft auf grundlegende Weise, sondern auch das Verhalten der Menschen zueinander und auf tiefster und intensivster Beziehungsebene.

Woran arbeitest du zurzeit?

Momentan bin ich dabei, unterschiedliche feministische Kollektive in Europa, die im weitesten Sinne mit dem Verlagswesen zu tun haben, zu kartieren bzw. in ein Beziehungsnetz zu stellen. Mein Projekt soll keine Bestandsaufnahme oder Dokumentation sein, ich will vielmehr ein bestimmtes Beziehungsnetzwerk einzelner Menschen darstellen. Es ist historisch und doch zeitgenössisch und umspannt die Zeit von den frühen 1970er Jahren bis heute. Um diese Karte zu erstellen, muss ich mit Kollektiven und Arbeitsgemeinschaften zusammenarbeiten, mit ihnen besprechen, welche Geschichten erfasst werden sollen, und eine echte Beziehung zu den Menschen aufbauen, die ich dabei treffe.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen deinem Interesse an Feminismus und feministischer Kulturproduktion und deinem Brief für den Kunstautomaten?

Das wichtigste Verbindungsglied zwischen den erwähnten feministischen Aspekten und dem Brief aus dem Kunstautomaten ist die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Rahel Varnhagen. Die beiden Frauen sind ein gutes Beispiel für mein Interesse an einer Genealogie feministischer Praktiken. Ich habe diesen Begriff auch geprägt, um ein Bewusstsein dafür ausdrücken, dass meine Generation einer ganzen Reihe früherer Generationen feministischer Aktivistinnen verpflichtet ist. So können wir Zeit verstehen und unsere Beziehungen zu älteren Generationen ausbauen.

Vielen Dank für das Gespräch, Alex!

Weitere Informationen zur Künstlerin und ihrem Schaffen finden Sie auf Alex Martinis Roe Website: http://alexmartinisroe.com/

Kommentiert von Kristin am 21. Januar 2014, 10:42 Uhr

Schönes und Interessantes Interview. Mich würde mal interessieren warum die deutsche Post diese Briefmarken wieder auflegen soll und was in dem Brief drin steht? #Neugier

Kommentiert von Dr. Nikolaus Gatter am 5. Juni 2014, 19:45 Uhr

Ein sympathisches Projekt – und besonders unterstütze ich den Wunsch, Briefmarken von Rahel und Hannah Arendt (letztere wurde bereits ein zweites Mal durch eine Sondermarke gewürdigt) neu aufzulegen. – Aber ich möchte der Behauptung widersprechen, Rahel sei zu ihren Lebzeiten „durch Judenpogrome aus Berlin vertrieben“ worden. Im Gegenteil, sie verließ Berlin, weil ihr Ehemann einen diplomatischen Posten in Süddeutschland erhielt, und kehrte aus Süddeutschland nach Berlin zurück, nicht wegen der dortigen Hep-Hep-Pogrome, die sie zutiefst verletzten, sondern auch, weil ihr Mann als Diplomat aus politischen Gründen seines Dienstes enthoben worden war. Ihre letzten 14 Lebensjahr hat sie, wie ihre Jugend und den Großteil ihrer Erwachsenenzeit, in Berlin verbracht, wo sie 1833 verstarb. – Und noch eine Aussage des Interviews scheint mir nicht zutreffend: Hannah Arendt hat sich sehr wohl in der Zeit der Niederschrift ihres Rahel-Buchs an der männlich dominierten konservativen Wissenschaft orientiert – von ihrer Huldigung Heideggers noch nach 1945 ganz abgesehen, stimmte sie der einhelligen Verdammung Karl August Varnhagen, des Demokraten und Dokumentaristen der 1848er Revolution, rückhaltlos zu. Sie schildert ihn als Aufsteiger, Opportunisten und Weichling, der Rahels Werke verfälscht hat – was der Chronist und unermüdliche Rahel-Briefherausgeber Varnhagen überhaupt nicht verdient hat. Das war ein Fehlurteil, das Hannah Arendt leider nicht revidiert hat, als beim Druck ihres Buchs 1959 Gelegenheit dazu war.

Kommentiert von Alex Martinis Roe am 13. Juni 2014, 14:08 Uhr

Thank you very much for this contribution! It is true that Varnhagen did not flee Southern Germany because of the Hep Hep riots or Berlin because of immediate physical danger; I said that she was driven out of Berlin due to anti-semitism, because her salon, which included other Jews and (non-Jews) at the time, broke up when Napoleon arrived in Berlin along with a wave of anti-semitism, which made her an exile from the circles she had previously been a part of. I think it is possible to infer that one reason she married Varnhagen and converted to Christianity was as a means of escape, hiding behind the protection of her husband’s status, and thus having to leave Berlin and her life there to follow him.

Regarding your other point about Arendt’s evasion of the woman question generally, Seyla Benhabib’s paper “The Pariah and her Shadow” explores Arendt’s marginal, but nevertheless crucial engagement with Varnhagen’s early salon with respect to the role of Jewish women in that space. Further, regardless of Arendt’s intention, the book has an autobiographical quality – the meditations on assimilation and Jewish identity chart not only Varnhagen’s changing relationship to these issues, but Arendt’s own. For me this book is an affirmative connection between these two women in its form as a biography of a female Jewish authoress from Berlin by a female Jewish authoress from Berlin.

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