Veröffentlicht von am 27. Januar 2015 0 Kommentare

Von internationalen und anderen Gedenktagen

Schwarz-weiß Fotografie mit Kindern in Kleidung der Konzentrationslager in Auschwitz hinter einem Stacheldrahtzaun stehend

Überlebende Kinder im Stammlager Auschwitz, Still aus der filmischen Dokumentation von Alexander Voronzow. Im Bild zu sehen sind: Tomasz Szwarz; Alicja Gruenbaum; Solomon Rozalin; Gita Sztrauss; Wiera Sadler; Marta Wiess; Boro Eksztein; Josef Rozenwaser; Rafael Szlezinger; Gabriel Nejman; Gugiel Appelbaum; Mark Berkowitz; Pesa Balter; Rut Muszkies; Miriam Friedman; Miriam und Eva Mozes. Als Public Domain lizensiert von United States Holocaust Memorial Museum.

Seit nunmehr 10 Jahren gilt der Tag, an dem die sowjetische Armee nach erbitterten Kämpfen in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz I und II vordrang, als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Obwohl ich mich jahrelang mit der Darstellung des Holocaust in Kunst, Literatur und Philosophie beschäftigt habe, berührt mich dieser Tag, der 27. Januar, irritierend wenig. In den meisten europäischen Ländern werden dieses Jahr erneut offizielle Veranstaltungen stattfinden, um kollektiv den Zivilisationsbruch in Erinnerung zu rufen und derer zu gedenken, die vor mehr siebzig Jahren systematisch ermordet wurden. So auch in Deutschland. Hier entschied man sich bereits 1996, den Tag der Befreiung von Auschwitz zum offiziellen Gedenktag zu erklären – nicht zuletzt auch, weil der 9. November durch den Fall der Mauer eine andere historische Symbolik gewonnen hatte. Im Unterschied zu diesem für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts so bedeutsamen Tag (Novemberrevolution 1918, Hitlerputsch 1923, Novemberpogrom 1938 und Fall der Mauer 1989) spielte der 27. Januar in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang keine besondere Rolle. Ob er deshalb für mich eher ein Kalenderdatum geblieben ist?

Schwarz-weiß Fotografie mit zahlreichen Personen unterschiedlichen Alters, den Judenstern tragend und vor einem Zug-Waggon stehend

Foto aus dem so genannten »Auschwitz-Album«, das u.a. im Auschwitz-Prozess der Beweisführung diente. Das Bild von der Ankunft ungarischer Juden auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau wurde Ende Mai oder Anfang Juni 1944 von einem SS-Mann (vermutlich Ernst Hofmann oder Bernhard Walter) gemacht; die abgebildeten Personen warten auf die sogenannten Selektion und sind bislang noch nicht identifiziert. CC-BY-SA 3.0 Bundesarchiv.

Das Wort Auschwitz galt bereits vor Ende des Kalten Krieges als Chiffre für die systematische Ermordung der Juden Europas. Dazu trugen weniger die Fotos bei, die sowjetische Soldaten nach der Befreiung von den im Lager verbliebenen Häftlingen machten, als vielmehr die Bilder der SS von den Deportierten an der Rampe von Auschwitz-Birkenau. Literarische Zeugnisse wie etwa Primo Levis »Ist das ein Mensch?« (verfasst 1945-47, erschienen 1958) oder Jean Amérys autobiografische Essaysammlung »Jenseits von Schuld und Sühne« (1966) sowie der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) festigten die zentrale Bedeutung des Konzentrations- und Vernichtungslager im kollektiven Gedächtnis. Im Unterschied zu abstrakten Begriffen wie »Holocaust«, »Schoa« und »Genozid« bezeichnet das Wort Auschwitz im Sinne Adornos seither einen konkreten Ort und meint zugleich die nicht vorstellbare Vernichtung von Personen und Auslöschung ihrer Namen. Es ist darum nur konsequent, den Tag, an dem dieser Ort aufhörte, ein Vernichtungslager zu sein, zum Tag des Gedenkens an jene zu wählen, die hier namenlos ermordet wurden.

Die Erklärung des 27. Januars zum Internationalen Gedenktag durch die UN-Generalversammlung aber geht nicht allein auf die zentrale Bedeutung zurück, die das Wort Auschwitz im Gedächtnis des Holocaust hat. Sie setzt auch eine Überlegung des Stockholmer »International Forum on the Holocaust« aus dem Jahr 2000 in die Tat um. Sie ist mithin ein Sinnbild für jene »Universalisierung des Holocaust«, von der Jan Eckel und Claudia Moisel zu Recht behaupten: »Kein anderes historisches Ereignis hat in der Erinnerung eine auch nur ähnliche internationale Bedeutung erlangt.« Am 27. Januar hat das kollektive Gedächtnis in Deutschland Teil an dieser globalisierten Gedenkkultur. Im Land der Täter und ihrer Nachfahren gedenkt man der systematischen Ermordung nun an demselben Tag wie etwa in Tschechien oder Griechenland – Länder, die einst von Deutschen besetzt wurden.


Aufnahmen von der Ayalon-Autobahn in Tel Aviv während des Ertönens der Sirenen an Jom ha-Schoa, Video: Hanok Dakar
In Israel ist hingegen ein anderer Tag von zentraler Bedeutung: Seit 1959 wird die Vernichtung der europäischen Juden hier am 27. Tag des jüdischen Kalendermonats Nissan mit einem zwei Minuten währenden Stillstand des öffentlichen Lebens erinnert. Bevor diese eindringliche Form kollektiven Gedenkens an Jom ha-Schoa entstand, gedachten praktizierende Juden insbesondere in den USA der Ermordung vor allem am 9. Tag des Monats Av, dem Fasten- und Feiertag Tischa be-Aw, an dem die Zerstörung des Zweiten Tempels erinnert wird. Rabbi Manuel Saltzman beschrieb den Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen einst mit den Worten:

Abbildung eines Kupferstichs von J.G. Puschner aus dem Jahre 1734 mit Darstellung der Tempelzerstörung in Jerusalem, Innenansicht

Joh. Georg Puschner, Die Zerstöhrung Jerusalems (aus: Paul Christian Kirchner, Jüdisches Ceremoniel), Kupferstich auf Hadernblüten, Nürnberg: Peter Conrad Monath 1734 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe, weitere Angaben in unserer Sammlung online

»Juden in aller Welt versammeln sich an dem Feiertag Tischa be-Aw in der Synagoge, um die Katastrophen zu erinnern, die über unser Volk in der Vergangenheit hereinbrachen und die ihren Höhepunkt in der Vernichtung von sechs Millionen Juden fanden. Wir werden die Verstorbenen niemals vergessen und beten, dass die gesamte Menschheit sie erinnern möge« (im Orig. englisch, zitiert nach: Hasia R. Diner, We remember with reverence and love).

Gedenken kann nur, wer sich von einem Ereignis berühren lässt; erinnern, wer berührt ist. Dafür bedarf es eines Rahmens, der kollektiv sein kann, aber nicht muss. Das Kollektiv, das nun am 27. Januar des Holocaust und seiner Opfer gedenkt, ist weniger universal, als es der internationale Rahmen suggeriert – der Tag, an dem mich Auschwitz aus der Fassung bringt, ist ein anderer.

 

Mirjam Wenzel, Medien

 

 

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