Es sind spannende Neuigkeiten, die der 11-jährige Hans Lustig (1922–2002) seinem Religionslehrer Dr. Robert Raphael Geis (1906–1972) zu erzählen hat. Viel ist passiert, seitdem die beiden sich das letzte Mal gesehen haben; und Hans bedauert es, dass er sich nicht persönlich von Geis verabschieden konnte. Jetzt sprudelt es aus ihm heraus und er lässt den – seit 1932 in München amtierenden – Jugendrabbiner an seinen Erlebnissen teilhaben.

Zunächst berichtet Hans von der Zugfahrt, die am 25. August in seiner Heimatstadt München begann. Vielleicht war die Aufregung daran schuld, dass er sich anfänglich nicht wohl fühlte. Ab Innsbruck stand er dann am Fenster. Die vielen Eisenbahntunnel auf dem Weg zum Brenner waren viel zu spannend. Ganz zu schweigen von der Pass- und Gepäckkontrolle an der italienischen Grenze. Weiter ging es mit der Bahn nach Bozen – und am nächsten Tag nach Oberbozen. Voller Begeisterung erzählt und zeichnet Hans, wie er mit seiner älteren Schwester Herta einen Hang hinunterrutscht und dass sein 5-jähriger Bruder Franz einen Frosch gefangen hat. Er berichtet auch von der »kleinen Laubhütte«, die die Familie für das bevorstehende Fest Sukkot gebaut hat. Und dann ist da noch das Zelt! Damit sich »Herr Dr. Geis« auch davon ein Bild machen kann, illustriert Hans seinen Brief mit einer weiteren Zeichnung: Zwischen zwei Tannen steht ein Zelt, gekrönt von einer Fahne in den Farben des Zionismus. Das Strichmännchen rechts, das auf das Zelt zu rennt, ist Hans, während sich im Innern zwei Freunde aufhalten, von denen einer zwischenzeitlich »schon abgereist« ist.

Der Eindruck, Hans berichte von einem normalen Familienurlaub in Südtirol, täuscht. In Wirklichkeit hatte die Familie Deutschland für immer verlassen. Der Vater Bernhard Lustig (1884–1969), der im Ersten Weltkrieg gemeinsam mit Hitler im Königlich Bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiment gedient hatte, gehörte der Zionistischen Bewegung an. Früh hatte er die Zeichen der Zeit erkannt und sich gemeinsam mit seiner Frau Paula, geb. Futter (1886–1965), entschieden, nach Palästina auszuwandern. Offenbar gelang es den Eltern, ihren Kindern selbst auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft unbeschwerte Stunden zu ermöglichen.

Jörg Waßmer

6.9.33

Lieber Herr Dr. Geis.

Es tut mir leid, daß ich mich nicht mehr bei ihnen verabschieden konnte. Ich schreibe jetzt ganz ausführlich. Am 25. August fuhren wir von München ab. Mir war nicht ganz gut und ich legte mich gleich, nach dem der Zug abgefahren war, auf die Bank. Erst nach dem der Zug in Innsbruck eingelaufen war, ging ich wieder an’s Fenster. Frau Dr. Eliasberg war mit Hannah an der Bahn. Nach 40 Min. Aufenthalt fuhren wir weiter. Jetzt legte ich mich nicht mehr hin, denn durch viele Tunnelle fuhren wir den Brenner hinauf. Eine Station vor Brenner wurden die Pässe eingesammelt. Es wurden auch die Handkoffer geöffnet. Beinahe wäre mir der Koffer auf den Kopf gefallen. An allen kommenden Stationen standen Carabiniere [Carabinieri]. In Colle-Sarco [Colle Isarco] waren leider Straußen[s] nicht an der Bahn. An vielen Weinbergen vorbei kamen wir nach 2-stündiger Fahrt in Bozen an.

(Seite 2/3)
Noch am Abend gingen wir in Bozen spazieren. Wir kamen an Wägen vorbei, die voll von Obst waren. Am nächsten Morgen kamen wir nach einer einstündigen Fahrt in Oberbotzen [Oberbozen] an. Noch am folgenden Tag gingen wir spazieren. Am nächsten Morgen rutschten wir auf Brettern die Wiese hinunter.

(Zeichnung mit zwei Strichmännchen: eines rutscht runter, das andere läuft den Berg hinauf. Die Männchen sind beschriftet mit »Ich« und »Herta«.)

Auf dem Brett rutschen ist sehr schön, weil man oft herunterfällt und dann bekommt man Grasflecken. Franz hat einen Frosch im Glas.

(Zeichnung eines Einmachglases mit Frosch darin.)

Wir bauen ein Zelt. 2 jüdische Freunde

(Zeichnung eines Zeltes mit zwei Strichmännchen darin, außerhalb ein weiteres Männchen und zwei Bäume. Beschriftet mit »Zelt«, »Tanne«, »Ich«, »Tommi auch ein Freund von mir« und »Benno mein Freund, der schon abgereist ist«.)

(Seite 4)
Wir haben auch schon eine kleine Laubhütte aus Stöcken gebaut. Jetzt habe ich alles geschrieben. Viele Grüße Ihr Schüler
Hans Lustig

(mit anderer Handschrift:)
Herzliche Grüße Herta.

(mit wieder anderer Handschrift:)
Herzliche Grüße
Ihr
B. Lustig

(mit einer vierten Handschrift:)
Lieber Herr Dr. Geiß!
Was sagen Sie zu dem Fleiss ausführlich zu berichten?
Herzliche Grüsse
Ihre
Paula Lustig