Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Dienstag,
19. September 1933

Brief von Martin und Jenny Held aus dem spanischen Exil an Clara und Leopold Lemke im ostpreußischen Tilsit

Am Vorabend von Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, blicken Martin und Jenny Held auf das zu Ende gehende Jahr zurück. Ihr Leben hat sich komplett geändert: Letztes Jahr noch zu Hause in Berlin-Schöneberg, befinden sie sich jetzt im spanischen Exil, Hunderte Kilometer entfernt von ihren Freunden und Verwandten. In einem Brief wenden sie sich an Martins Schwester Clara und deren Mann Leopold Lemke, um ihnen alles Gute für das Jahr 5694 zu wünschen.

Zuerst greift die 51-jährige Jenny Held, geb. Wolff, zur Feder. Sie berichtet, dass die Familie vor mehr als zwei Wochen aus Deutschland emigriert und nun in Barcelona untergekommen ist. Um »das Abschiednehmen nicht noch extra [zu] erschweren«, hätten sie vor ihrer Abreise nicht Bescheid gegeben. Ihr wichtigster Wunsch für das neue Jahr gilt »einer wieder sicheren Verdienstmöglichkeit«. Auch Martin Held, 1879 in Bromberg geboren, steht noch ganz unter dem Schmerz, seine »Heimat« verlassen zu haben. Aus seiner Sicht geht die Familie einer schweren Zukunft entgegen. Dabei deutet er nur an, in welchen finanziellen Schwierigkeiten sie sich befinden. Rosch ha-Schana ist ein Freudenfest, da will er seine Verwandten nicht mit Sorgen belasten.

Ein paar Wochen später schüttet er dann in einem weiteren Brief, geschrieben am 20. November, sein Herz aus: Obgleich er die Emigration gut vorbereitet hatte – im Mai des Jahres war er extra für »2-3 Wochen« in Barcelona gewesen, um sich »zu orientieren« –, sei alles schief gegangen: »da nichts, auch nichts klappt, also nicht nur allein keinen Pfennig verdienen, sondern immer nur Ausgaben, bin ich bald am Ende & dadurch der Verzweiflung nahe«. Der Kaufmann offenbart seiner Schwester und seinem Schwager, er käme sich »wie der unfähigste Mensch vor & verfluche den gefaßten Entschluß nach hier gegangen zu sein«. Neulich habe er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Nur seiner tapferen Frau Jenny sei es zu verdanken, dass es ihm wieder etwas besser gehe.

Über das weitere Schicksal der Familie Held ist wenig bekannt. Während des Spanischen Bürgerkrieges suchte Jenny Held monatelang an der Küste Zuflucht vor den Luftangriffen auf Barcelona; sie konnte im Frühjahr 1938 zusammen mit ihrem Sohn Edwin in die USA fliehen. Ihre Tochter Hannelise war dorthin bereits im Herbst 1936 ausgewandert. Martin Held sollte den rettenden US-amerikanischen Boden nicht mehr erreichen: Er starb noch in Spanien.

Jörg Waßmer

Kategorie(n): Auswanderung | Kaufleute | Religiöses Leben
Brief von Martin und Jenny Held an Clara und Leopold Lemke zu Rosch ha-Schana, Barcelona, 19. September 1933
Leo Baeck Institute, Meinhardt Lemke Collection, AR 4235
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