Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Donnerstag,
21. September 1933

Entwurf eines Aufrufs der Reichsvertretung der deutschen Juden

Am 17. September, vier Tage vor Beginn des jüdischen Neujahrsfestes, einigten sich in Berlin die größten und wichtigsten jüdischen Organisationen in Deutschland auf die Gründung eines gemeinsamen Dachverbands, der »Reichsvertretung der deutschen Juden«. Vorausgegangen war »eine Reihe von Besprechungen und sehr schwierigen Verhandlungen und Sitzungen (…) ehe das Werk zustandekommen konnte«, so Georg Hirschland, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Essen und einer der Initiatoren. Angesichts der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik der nationalsozialistischen Regierung war es dringend nötig, eine Organisation zu schaffen, welche die Interessen der deutschen Juden einheitlich vertrat. Noch wichtiger aber war eine zentrale Förderung und Koordinierung der jüdischen Selbsthilfe, bei der die Reichsvertretung eine große Rolle spielen sollte.

Zum Präsidenten wurde der Berliner Rabbiner Leo Baeck ernannt. Den Vorstand bildeten Repräsentanten des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, der Reichsfront jüdischer Frontsoldaten, der Konferenz der Großgemeinden, der Arbeitsgemeinschaft der Landesverbände der deutschen jüdischen Gemeinden sowie der Gemeindeorthodoxie.

Der vorliegende Aufruf »An die deutschen Juden«, verfasst an Rosch ha-Schana, ist ein Entwurf, der in dieser Form letztendlich nicht veröffentlicht wurde. Darin sind jedoch die Schwerpunkte genannt, auf die sich die Reichsvertretung in ihrer Arbeit zu fokussieren gedachte: die Einbindung aller deutschen Juden und die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz, die Förderung und der Aufbau der jüdischen Erziehung, die Pflege von Kultur und Religion, die körperliche Ertüchtigung, die berufliche Ausbildung und Umschichtung, die Unterstützung von Auswanderungswilligen und die Erschließung von Palästina für und durch die deutschen Juden, und nicht zuletzt die Beibehaltung der »Werte der deutschen Kultur«.

Am 28. und 29. September erschien in den größten jüdischen Zeitungen des Landes die überarbeitete und ausführlichere Proklamation der neuen Reichsvertretung, in der die hier genannten Zielsetzungen im Wesentlichen enthalten waren. Zudem erhoffte man sich »den verständnisvollen Beistand der Behörden und die Achtung unserer nichtjüdischen Mitbürger, mit denen wir uns in der Liebe und Treue zu Deutschland begegnen.«

Obwohl die Reichsvertretung seitens der Regierung nicht offiziell anerkannt wurde, stand sie in den kommenden Jahren auf vielerlei Ebenen mit ihr in Berührung und war die Instanz, die im Namen der deutschen Juden zur antijüdischen Gesetzgebung Stellung nahm. Infolge der Novemberpogrome im Jahr 1938 verlor sie zunehmend ihre Selbstständigkeit und wurde 1939 unter dem Namen »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« zu einer Zwangsorganisation, die vollkommen vom Regime gesteuert war.

Aubrey Pomerance

Kategorie(n): Politiker | Religiöses Leben | Vereine
Entwurf eines Aufrufs der Reichsvertretung der deutschen Juden, Berlin, 21. September 1933 (Rosch ha-Schana)
Leo Baeck Institute, Leopold Levi – Otto Hirsch Correspondence Collection, AR 5412
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