Das Lied der Lieder. Von buchstäblicher und allegorischer Liebe
Ein Essay von Ilana Pardes
Das biblische Hohelied, oder wörtlich, das Lied der Lieder, beginnt mit dem Verlangen danach, geküsst zu werden:
„Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich./
Süßer als Wein ist deine Liebe./ […] /,
dein Name hingegossenes Salböl“
(Hohelied 1:2–3).
Die Geliebte sehnt sich nicht nach irgendwelchen Küssen, sondern nach üppigen Küssen, in ihrer Sehnsucht changierend zwischen berauschendem Wein und wohlriechendem Öl. Die Küsse stehen für ein aufregendes Zusammenspiel der Sinne – Geschmack, Berührung und Geruch. Auch der Klang ist Teil dieses sinnlichen Festes: Ein wiederholter, säuselnder „Sch“-Laut steht gleich zu Beginn dieses Hymnus über die Liebe, nämlich im Titel Schir ha-schirim, und setzt sich in vielen der folgenden Wörter fort, darunter neschikot (Küsse).1
Dieses uralte Liebesgedicht ist zu weiten Teilen ein Dialog zweier junger Liebender: zwischen Schulammit, wie die Geliebte genannt wird, und ihrem namenlosen Liebhaber.2 Es ist überaus erfrischend, wie freimütig sie die Liebe in ihren leidenschaftlichen Gesprächen feiern. Nirgendwo sonst in der Bibel werden Körperteile – Mund, Lippen, Zunge, Haare, Nase, Augen, Brüste, Schenkel – derart herausgestellt; nirgendwo sonst werden die sinnlichen Wonnen der Liebe mit solcher Freude gewürdigt; nirgendwo sonst wird sexuelles Begehren mit so viel Inbrunst zum Ausdruck gebracht. Und doch ist die Sexualität in dem Lied nie offensichtlich präsent. Stattdessen begegnen wir einer nuancenreichen Mischung aus Kühnheit, Unschuld und Schicklichkeit, die auf einem beeindruckenden Metapherngeflecht beruht, welches den Liebenden erlaubt, direkt und indirekt zugleich zu sprechen.
Während in vielen Liebesgedichten der Antike (und auch später) die männlichen Liebespartner als die maßgeblich Werbenden dargestellt werden, handelt es sich hier um einen erstaunlich gleichberechtigten Liebesdialog zweier virtuoser Sprecher*innen, die sich gegenseitig umwerben und dabei mit einer Fülle an meisterhaften Metaphern und Gleichnissen aus ganz unterschiedlichen Bereichen jonglieren.3 Sie vergleichen einander mit Wein, Parfüm, Rosen, Bäumen, Gazellen, Tauben, dem Mond, der Sonne, roten Bändern, Gold, Edelsteinen, Schlössern, Mauern und Türmen. Keine Formulierung kann die Liebe hinreichend beschreiben.
Die Rezeptionsgeschichte des Liedes begann mit einem Rätsel: Warum wurde ein gewagtes, sinnliches Liebesgedicht, das keinerlei Bezug zu Gott oder zur Geschichte des jüdischen Volkes hat, in die Bibel aufgenommen? Offenbar gab es einen rabbinischen Streit darüber, ob das Lied kanonisch sei. Allerdings sind die Berichte über diesen Streit spärlich und enthalten auch keine näheren Angaben zu den offiziellen Kriterien, nach denen die Kanonizität bestimmt wurde.
Das einzige erhaltene Zeugnis dieser Debatte ist die denkwürdige Erklärung von Rabbi Akiba (50 bis ca. 135 u. Z.):
[D]ie ganze Welt ist nicht so würdig, wie am Tage, an dem das Lied der Lieder verliehen wurde, denn sind auch alle Hagiographen heilig, aber das Lied der Lieder ist hochheilig. (Mischna Jadajim 3:5)
In einem bemerkenswerten rhetorischen Zug nutzt Rabbi Akiba, einer der Gründer des rabbinischen Judentums, die Superlativstruktur des Ausdrucks Schir ha-schirim, um den Text, dessen Heiligkeit infrage gestellt wurde, zum kodesch kodaschim, zum „Allerheiligsten“, zu erklären.
Dass Rabbi Akiba die Heiligkeit des Liedes bestätigte, spielte eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der allegorischen Lesart dieses alten Liebesgedichts. Jahrhundertelang herrschte in der jüdischen Exegese die Meinung vor, das Lied der Lieder sei ein allegorisches Gedicht, das in erster Linie die göttliche Liebe feiern solle. Dies zeigt sich exemplarisch an diesem rabbinischen Kommentar zum Lied der Lieder 7:4:
‚Deine zwei Brüste [sind wie zwei Kitzlein]‘ [7:4]: Dies sind Moses und Aaron. So wie die Brüste einer Frau ihre Herrlichkeit und ihr Schmuck sind, so sind Moses und Aaron die Herrlichkeit und der Schmuck Israels. So wie die Brüste einer Frau ihren Reiz ausmachen, so sind Mose und Aaron der Reiz Israels (Schir ha-schirim rabbah 4:5).4
Auf uns heutige Leser*innen wirkt jeder Versuch zu behaupten, das Lied der Lieder beziehe sich auf die biblische Geschichte oder die göttliche Liebe, erstaunlich weit entfernt von seiner buchstäblichen Bedeutung. Aber aus Sicht der spätantiken Rabbiner wäre es undenkbar gewesen, das Lied anders als im Sinne des Göttlichen zu interpretieren: Denn warum hätte man das Lied in die Heilige Schrift aufgenommen, wenn nicht als einen Schlüssel zum Mysterium der Verbindung zwischen Gott und den Menschen?
Ein dramatischer Richtungswechsel in der Auslegung – einer der dramatischsten exegetischen Umschwünge, die es je gab – erfolgte im Zuge der Aufklärung, als das Lied der Lieder auf einmal als erlesenes irdisches Zwiegespräch zwischen menschlichen Liebenden gedeutet wurde.5 In Deutschland gab es im 18. Jahrhundert eine Reihe von Gelehrten, die sich für eine buchstäbliche Lesart des Liedes stark machten, doch Johann Gottfried Herder (1744–1803) war zweifellos derjenige, der sich am meisten dafür engagierte, und auch der bekannteste. In seinen „Liedern der Liebe“ (1778), einer Übersetzung des Lieds der Lieder, die einen Kommentar zu jeder Strophe enthält, wendet er sich gegen die hergebrachten allegorischen Deutungen des alten Liebesgedichts.6 Er schreibt, dass es nach jahrhundertelangen Fehlinterpretationen an der Zeit sei, das Offensichtliche zuzugeben:
Was ist nun sein Inhalt? Was sagt das Buch vom Anfang bis zum Ende? [...] Liebe, Liebe. […] Es ist […], was es ist und in jedem Wort sagt: ein Lied der Liebe.7
Die buchstäbliche Bedeutung des Gedichts, sein ursprünglicher Sinn, sei durch die jüdisch-christliche Exegese verdunkelt und durch mystische Allegorien der göttlichen Liebe verdeckt worden. „Ich lese das Buch und finde in ihm selbst nicht den kleinsten Wink, nicht die mindeste Spur, dass ein andrer Sinn Zweck des Buchs […] gewesen wäre.“8 Herders buchstabengetreuer Ansatz ist untrennbar mit einer Würdigung des antiken Liebesliedes als ästhetischem Prüfstein verbunden. Für ihn ist das Lied ein großartiges Beispiel für die unvergleichliche morgenländische Vorstellungskraft der Bibel, ein Text, dessen subtile Bedeutungen am besten im Lichte der Kultur und der Bräuche des Orients zu verstehen sind.
Die ersten Schockwellen der buchstäblichen Interpretation des Liedes der Lieder erreichten die Gelehrten der jüdischen Aufklärung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der Gelehrte und Dichter Salomo Löwisohn (1789–1821) verfasste die wichtigste Einführung in eine literarisch-ästhetische Lesart des Liedes der Lieder im Rahmen der jüdischen Aufklärung. Sein bekanntestes Buch „Die Poesie Israels“ (1816), das in blumigem biblischem Hebräisch verfasst ist, enthält zahlreiche Übernahmen von Herders Kommentaren zum Lied der Lieder. Löwisohn interpretiert es als leidenschaftliches Dreiecksverhältnis zwischen Schulammit, dem König und dem Hirten. König Salomo, der Schulammit zwingt in seinem Harem zu leben und sie inbrünstig umwirbt, kann nicht verhindern, dass die junge Frau zu ihrem Geliebten auf dem Land davonläuft. Sie verschmäht alle königlichen Angebote, ignoriert Salomos Aufforderung, in den Harem zurückzukehren – „Wende dich, wende dich, Schulammit!“ (Hohelied 7:1) – und bleibt ihrem einfachen Hirten treu.9
Mit dem Aufschwung des Zionismus erfuhr das aufklärerische Lied eine begeisterte Rezeption. Es wurde zu einem bevorzugten Text des säkularen Zionismus, weil es keiner Ent-Theologisierung bedurfte, da Gott in den Dialogen der Liebenden gar nicht vorkommt. Die zionistischen Leser*innen machten sich daran, die allegorischen Schichten zu entfernen, die dem Lied übergestülpt worden waren, und stellten seine ursprüngliche wortgetreue Großartigkeit wieder her. In der Anfangszeit der zionistischen Kultur tauchte das biblische Liebesgedicht in verschiedenen Formen auf: von diversen musikalischen Bearbeitungen des Liedes bis hin zu zahlreichen Kunstwerken, Volkstänzen und den Haggadot der Kibbuzim.10 Die aufwendigste bildliche Interpretation des Liedes der Lieder lieferte Zeev Raban in einer illuminierten Ausgabe der Bezalel Schule für Kunst und Kunsthandwerk, die 1922 veröffentlicht wurde. Rabans Illustrationen zeigen die Liebenden in sehr sinnlichen Momenten inmitten eines orientalischen Umfelds, das sowohl ländlich als auch städtisch ist, wobei Schulammit mal bekleidet, mal halbnackt und mal nackt ist. Rabans orientalische Schulammit wirkt irgendwie unschuldig und wollüstig zugleich.
Das Lied der Lieder ist auch heute noch ein Schlüsseltext der israelischen Kultur. In der modernen israelischen Dichtung nimmt es nach wie vor eine privilegierte Stellung ein – von Haviva Pedayas „From a Sealed Ark“ (2002) bis hin zu Jehuda Amichais „Bible, Bible, with You, with You, and other Midrashim“ (1998). Es ist – mehr noch als früher – ein unverzichtbarer Bestandteil von Hochzeitszeremonien, und auch in der Popmusik ist es nach wie vor lebendig. Zu den faszinierenden Phänomenen zeitgenössischer Bearbeitungen des Liedes gehört die Wiederbelebung traditioneller Pijutim (liturgischer Gedichte), darunter Gedichte der großen mittelalterlichen Dichter Salomon Ibn Gabirol und Jehuda ha-Levi, in denen das alte Liebesgedicht sowohl als irdisch als auch als göttlich beschworen wird. Diese zeitgenössische Mischung aus buchstäblicher und liturgischer Interpretation des Liedes tritt bei der Sängerin Victoria Hanna zutage. Ihre Adaption der Traumsequenz des Liedes der Lieder „Ich schlief, doch mein Herz war wach“ (Hohelied 5:2) lässt das Mystische und das Sinnliche auf nie dagewesene Weise miteinander verschmelzen.
Niemand, der sich mit dem Lied befasst, bleibt von dessen wunderbaren Eigenschaften unberührt. Der Auftakt der langen Rezeptionsgeschichte des Liedes – seine rätselhafte Aufnahme in den Kanon – deutet bereits auf vieles, was noch kommen sollte, voraus. Rabbi Akiba beharrt nicht bloß nüchtern darauf, dass das Lied kanonisiert werden muss, sondern er setzt sich mit Inbrunst dafür ein. Heutige Leser*innen reagieren nicht weniger leidenschaftlich. Selbst jene, die sich nicht im Geringsten für etwaige religiöse Aspekte interessieren, betrachten die überaus tiefgründige Erforschung der menschlichen Liebe und die kühne Feier des menschlichen Körpers als absolut unverzichtbar für das eigene Leben.
Für alle Rezipient*innen des Liedes – ob nun heute oder in der Vergangenheit – ist das antike Liebesgedicht viel mehr als bloßer Anlass, über Liebe und Sexualität nachzudenken. Es ist ein dringender Appell, den noch unbestimmten Sphären des amourösen Strebens nachzuspüren.
Zitierempfehlung:
Ilana Pardes (2024), Das Lied der Lieder. Von buchstäblicher und allegorischer Liebe. Ein Essay von Ilana Pardes.
URL: www.jmberlin.de/node/10431
Verschiedene Übersetzungen des Lieds der Lieder finden Sie unter diesen Links:
Das Buch Gesang der Gesänge übersetzt von Martin Buber: | Gesang der Gesänge (windmuller.de) Hoheslied – Die Schrift (bibel.github.io) |
---|---|
Einheitsübersetzung: | Hohelied 1 - Einheitsübersetzung (EUE) - Die-Bibel.de |
Lutherübersetzung: | Hoheslied 1 - Lutherbibel 2017 (LU17) - Die-Bibel.de |
- Das säuselnde Klangmuster des „Sch“-Lauts betrifft auch die folgenden Wörter: Schelomo (Salomo), ascher (welcher), jischakeni (lass ihn mich küssen), schemen (Öl), und simcha (dein Name). Ein Wortspiel in 1:2 unterstreicht den fließenden Charakter der Küsse: „Mit seinen Küssen bedecke er mich“, jischakeni, ähnelt phonetisch dem Verb jaschkeni, „lass ihn mir zu trinken geben“.↩︎
- Die Bedeutung des Namens „Schulammit“ ist umstritten. Am wahrscheinlichsten ist es, dass er sich von Schalem ableitet, einer Kurzform für „Jerusalem“, obwohl er mittels eines Wortspiels mit Salomon, Schlomo, und Schalem, Ganzheit, verbunden ist.↩︎
- Zur egalitären Ausrichtung des Liedes siehe auch Ilana Pardes, Countertraditions in the Bible. A Feminist Approach, Cambridge, MA 1992, Kapitel 7.↩︎
- Song of Songs Rabbah. An Analytical Translation, übers. von Jacob Neusner, Brown Judaic Studies, Atlanta, GA 1989, S. 48.↩︎
- Für eine ausführliche Darstellung der verwickelten Geschichte der Exegese des Hohelieds siehe Ilana Pardes, The Song of Songs. A Biography, Princeton, NJ 2019.↩︎
- Johann Gottfried von Herder, Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande; nebst vier und vierzig alte Minnelieder, 1778, in: Sämtliche Werke VIII, Leipzig/Frankfurt a. M. 2022 (1892) S. 485–588.↩︎
- Dieses Zitat stammt aus Herders Kapitel „Über den Inhalt, die Art und den Zweck dieses Buchs in der Bibel“.↩︎
- Ebd.↩︎
- Siehe Tova Cohen, Melitzat yeshurun li-Shlomo Levisohn: Ha-yetzira ve-yotzra [Melitzat Yeshurun von Salomo Löwisohn: Das Werk und sein Autor], Jerusalem 1988, S. 219.↩︎
- Für eine ausführliche Betrachtung der Rezeption des Liedes im israelischen Kontext siehe Ilana Pardes, Agnon’s Moonstruck Lovers. The Song of Songs in Israeli Culture, Seattle 2013.↩︎
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