Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Montag,
20. März 1933

Brief von Genia Grünberg an ihren Bruder Josef Hurtig

Voller Sorge schreibt Genia Grünberg (1902–1991) aus dem rumänischen Siebenbürgen diesen Brief an ihren 24-jährigen Bruder Josef Hurtig (1908–1942). Sie ängstigt sich um »Juziu«, wie sie ihn liebevoll nennt, der in der deutschen Reichshauptstadt wohnt. Genia war von Anfang an dagegen gewesen, dass er vier Jahre zuvor dorthin ging, um Nationalökonomie zu studieren.

Josefs Situation ist prekär. Er hat finanzielle Sorgen und kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Nach Rumänien will er nicht zurück, auch weil dort der Militärdienst auf ihn wartet. Doch im Herbst läuft seine Aufenthaltsgenehmigung aus, seine Zukunft ist ungewiss. Genia ängstigt insbesondere die politische Entwicklung. Nach dem Erdrutschsieg der NSDAP bei der preußischen Landtagswahl im April 1932 hatte sie ihrem Bruder geschrieben: »Hitler! Hitler!! Es hat uns alle hier sehr niedergeschlagen u. wir befürchten böse Folgen für Euch ausländische Juden.«

Nun ist Hitler Reichskanzler und das Reichsministerium des Innern hat fünf Tage zuvor, am 15. März in einem Runderlass an die Landesregierungen verfügt, die »Zuwanderung von Ostjuden abzuwehren«, diejenigen »Ostjuden, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland befinden, zu entfernen« und sie generell »nicht mehr einzubürgern«

Genia Grünberg sieht für ihren Bruder keine Zukunft in Deutschland. Sie und ihr Ehemann Phöbus legen ihm nahe, sich in Sicherheit zu bringen und zu »verreisen«. Bis dahin bittet sie ihn im Namen ihres Vaters, wenigstens alle zwei Wochen ein Lebenszeichen zu senden.

Jörg Waßmer

Kategorie(n): Berlin | Studenten
Brief von Genia Grünberg an ihren Bruder Josef Hurtig (1. Seite), Alba Iulia (Karlsburg), Rumänien, 20. März 1933
Leo Baeck Institute, Constantin Brunner Collection, LBI 2009/2

Josef Hurtig

Josef Hurtig, 1908 in der Bukowina geboren, ging 1928 nach Berlin. Neben seinem Studium widmete er sich der Philosophie und engagierte sich darüber hinaus für die Kommunistische Partei.

An Silvester 1933 schrieb er an seine Schwester: »Meine Situation ist in jeder Beziehung labil. Was uns alle bedrückt, ist die politische Entwicklung und unsere augenblickliche Ohnmacht sie aufzuhalten. Es steht uns noch viel Unerfreuliches bevor. Im zivilisierten Europa gibt es kein Land, in dem die Reaktion so einen brutalen und bestialischen Charakter hat wie in Deutschland.«

Mit seiner Partnerin Mary Grünberg (1907–1942), einer gebürtigen Berlinerin, die wegen ihrer »ostjüdischen« Herkunft »staatenlos« war und die er deshalb nicht heiraten konnte, flüchtete Josef Hurtig im Oktober 1936 nach Belgien. Im August 1942 wurden beide vom SS-Sammellager Mechelen nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Josef Hurtig, vermutlich 1933 
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