Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Mittwoch,
14. Juni 1933

Traueralbum zum Andenken an Louise Goldschmidt

Louise Goldschmidt, geb. May, stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Hamburg, heiratete in eine in Berlin verwurzelte Familie ein, führte ein traditionelles jüdisches Haus, bekam Kinder und Enkel. Seit dem Tod ihres Mannes Oscar Goldschmidt 1906 war sie das respektierte Oberhaupt der Familie.

Anlässlich ihres Todes am 14. Juni 1933 in Breslau wurde ein kleines Traueralbum angelegt, in das die Hinterbliebenen ein Porträtfoto und die Todesanzeige einklebten und die Jahrzeit-Tage eintrugen. Den jährlichen Todestag, an dem eine Kerze entzündet und der Verstorbenen gedacht wird, berechnet man nach dem jüdischen Kalender. Louise Goldschmidt starb am 20. Siwan und im Traueralbum sind die entsprechenden Gedenktage des bürgerlichen Kalenders für die nächsten 50 Jahre angegeben. Über einen kontinuierlichen Zeitraum von zwei Generationen will sich die Familie der Toten erinnern.

Lose in das Album eingelegt war die Trauerrede, die Louise Goldschmidts Schwiegersohn Arthur Marcus zwei Tage später bei ihrer Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee hielt. In seiner Ansprache schwingt die Unsicherheit mit, in der sich das deutsche Judentum seit einiger Zeit befand.

Arthur Marcus beschreibt seine Schwiegermutter als Vertreterin einer Generation, der es durch Bildung und Fleiß gelang, anerkannte Mitglieder der Gesellschaft zu sein und dabei ihre jüdische Identität nicht zu verleugnen. Er charakterisiert dies mit dem Wort »Bodenständigkeit«, das bei ihm aber einen besonderen Klang bekommt: »Wir Juden, die wir das Volk sind, das jede politische Erschütterung sofort zu spüren bekommt, und das gar so oft zum Wanderstab greifen muss, wissen besonders hoch zu schätzen, was Bodenständigkeit heisst. Bodenständigkeit gibt die Möglichkeit, sich als Familie durch Generationen ungestört zu entwickeln, sie verleiht aber auch eine gewisse Selbstständigkeit des Denkens«.

Er ahnt, dass diese Zeit vorbei ist: »Mit unserer lieben Mutter sinkt nicht nur die Vertreterin ihrer Generation ins Grab, sondern die Vertreterin einer alten vergangenen und ich darf sagen, freundlicheren Epoche. Eine neue schwere Zeit ist angebrochen.«

Arthur Marcus zog daraus die Konsequenz: Zusammen mit seiner Frau Erna wanderte er 1936 nach Palästina aus, zu seinem Sohn, der bereits 1934 gegangen war. Cäcilie Landsberg, die Tochter, bei der Louise Goldschmidt in Breslau ihre letzten Lebensjahre verbracht hatte, starb 1942 im Vernichtungslager Treblinka.

Henriette Kolb

Kategorie(n): Berlin | Breslau | Religiöses Leben
Traueralbum zum Andenken an Louise Goldschmidt, Berlin, 14. Juni 1933
Schenkung von Shimshon S. Marcus
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