English Logo des Jüdischen Museums Berlin und Link zur Website
23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren

Symposion


24. März 2012

Museum – Wissenschaft – Familiengedächtnis. Perspektiven einer unbekannten Migrationsgeschichte

Symposion der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin zur Ausstellung »Berlin Transit. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920er Jahre«

Begleitend zu »Berlin Transit. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920er Jahre« fand am 24. März 2012 ein eintägiges Symposion statt, in dem einzelne Themen der Ausstellung vertieft und die Wechselwirkungen von Museum, Forschung und Familienerinnerungen für die Annäherung an ein weitgehend in Vergessenheit geratenes Kapitel der Berliner Migrationsgeschichte diskutiert wurden. Erste Beiträge finden Sie nun auf dieser Seite zum Nachhören (jeweils in der linken Spalte der Seite), weitere werden noch ergänzt werden.


Panel 1

Charlottengrad und Scheunenviertel

Bilder einer Ausstellung

Inszenierte Wissenschaft? Zur Konzeption einer kulturhistorischen Ausstellung Leonore Maier (Jüdisches Museum Berlin)

Die Konzeptentwicklung der Ausstellung »Berlin Transit« war ein über gut zwei Jahre andauernder Prozess der Annäherung zweier Perspektiven: auf der einen Seite die auf Quellen und Texten basierende wissenschaftliche Perspektive der beteiligten Wissenschaftlerinnen des Forschungsprojekts »Charlottengrad und Scheunenviertel«; auf der anderen Seite die Perspektive der KuratorInnen des Jüdischen Museums und das Medium Ausstellung mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, bei dem es darum geht, ein komplexes Thema anhand von Objekten und visuellem Material einem breiten Publikum ohne Vorkenntnisse besucherfreundlich zu vermitteln. Der Werkstattbericht beleuchtet die Themen, die diskutiert, verworfen und ausgewählt wurden und klärt den Entstehungsprozess der Ausstellung hin zu ihrer vorliegenden Form.

Das Scheunenviertel – eine historisch-kritische Bildanalyse Ulrike Pilarczyk (TU Braunschweig)

In dem Beitrag wird das Medium Fotografie als konstitutiver Bestandteil sozialer Interaktion betrachtet, das seit dem 20. Jahrhundert auch einen maßgeblichen Anteil an der Hervorbringung des Sozialen hat. Die spezifisch historische Quellendimension, die sich aus dieser Auffassung ergibt, wird allerdings im musealen Zusammenhang noch wenig genutzt. Dagegen möchte der Beitrag zeigen, wie Spuren vergangener Wirklichkeit über quellenkritische Verfahren rekonstruiert werden können. An Bildbeispielen der für den Ausstellungsteil Scheunenviertel gewählten Aufnahmen soll das bildanalytische Vorgehen vorgestellt werden, das neben dem bildlich Dargestellten auch Akteure und Adressaten, Produktionsbedingungen und Verwendungsweisen der historischen Aufnahmen einbezieht. Darüber erschließen sich die Kontinuitäten der visuellen Formulierung des ›Ostjuden‹ in der öffentlichen Fotografie nach dem ersten Weltkrieg ebenso wie die Anschlussfähigkeit für antisemitische Umdeutung und Radikalisierung nach 1933. In der Kontrastierung fotografischer Perspektiven etwa von privat und öffentlich werden auch Brüche im Verhältnis von Fremd- und Selbstwahrnehmung erkennbar, die auf unbestellte bildanalytische Forschungsfelder verweisen.

Moderation Gertrud Pickhan (Osteuropa-Institut, FU Berlin)


Panel 2

Großstadt und Identität

Für die osteuropäisch-jüdischen Migranten im Berlin der 1920er Jahre war die Metropole ein Transit- und Übergangsraum, der unterschiedlichste Begegnungen zwischen Ost und West ermöglichte. Wie in keiner anderen Stadt trafen hier die divergierenden Identitätskonzepte der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Judenheiten in den osteuropäischen Staaten auf die komplexen und vielschichtigen westeuropäisch-jüdischen Selbstverständnisse unter den deutschen Juden. Die unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Antworten auf diese Begegnungen verbindet miteinander, dass sie Berlin als einen Ort beschrieben, in dem sich Fragen nach dem Eigenen und dem Fremden, nach Zugehörigkeit und Identität neu stellten und eine Klärung verlangten.

Dieses Panel analysiert aus literatur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Wechselbeziehungen von Identität und Großstadt. Anne-Christin Saß präsentiert Forschungsergebnisse ihrer Dissertation »Berliner Luftmenschen« zur Rolle Berlins als osteuropäisch-jüdisches Migrationszentrum, zur Diversifizierung und Gemeinschaftsbildung innerhalb der Migrantengruppe und diskutiert die Beziehungen der Migranten zur jüdischen community und der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft im Berlin der 1920er Jahre.
Alina Bothe stellt den 1935 auf Jiddisch erschienenen und von ihr ins Deutsche übertragenen Roman »Grenadierstraße« des russisch-jüdischen Migranten Fischl Schneersohn vor. Mit diesem Roman hat Fischl Schneersohn eine faszinierende und dichte Beschreibung jüdischer Identitäten in Berlin in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hinterlassen. »Grenadierstraße« erzählt die Lebensgeschichte seines deutsch-jüdischen Protagonisten Johann Ketner. Anhand dieser Lebensgeschichte beschreibt Schneersohn eine beeindruckende Vielfalt deutscher wie osteuropäischer jüdischer Identitäten in Berlin sowie ihr spannungsreiches Miteinander. Diese Identitäten sind weder statisch noch stereotyp, sondern hybrid, wandelbar und oszillierend und werden in der Topographie Berlins verortet.

Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik Anne-Christin Saß (Osteuropa-Institut, FU Berlin) Lesung aus dem Roman »Grenadierstraße« von Fischl Schneersohn Fabian Schnedler (Jüdisches Museum Berlin) Jüdische Identitäten im Roman »Grenadierstraße« Alina Bothe (Osteuropa-Institut, FU Berlin) Moderation Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin)


Panel 3

Kampf den Bolschewiki!

Die Debatten um Revolution und Pogrome in Berlin

A Forgotten Film about Pogroms in Ukraine in 1918–1920 from »The Archives of the History of East European Jewry« Efim Melamed (Projektkoordinator Judaica in der Ukraine)
Auf Russisch (mit deutscher Übersetzung)

The paper deals with the documentary »The Jewish pogroms in Ukraine in 1919-1920s« found in the Central State Kinophotophonoarchive of Ukraine, a fragment of which is shown now at the exhibition »Berlin Transit«. Assembled of photographs and motion pictures made in the short run of tragic events, it is hardly the only visual evidence of such kind.
Touching upon the origin of these photos and film documents, the author presents some little known facts about the activities of »The Archives of the History of East European Jewry« (»Ostjüdisches Historisches Archiv«) which functioned in Berlin in 1920-1930s and possessed a unique collection of materials about the Jewish pogroms in Ukraine during the Civil War. As for making the film itself, he connects it with a resonant trial, held in 1927 in Paris, on charging Samuil Schwartzbard in committing the assassination of the former head of the Ukrainian People’s Republic Simon Petlyura, whom most Jews believed to be »the main culprit of the Ukrainian massacre.«

Das Stereotyp des »jüdischen Bolschewik« und die Debatten über die ukrainischen Pogrome in Berlin Christoph Dieckmann (Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt/Main)

Dieckmann berichtet über sein gerade angelaufenes Projekt, in dem die jüdischen Reaktionen auf die Entstehung und Verbreitung des Stereotyps des ›jüdischen Bolschewismus‹ im Mittelpunkt stehen. Der sogenannte russische Bürgerkrieg und die antijüdischen Pogrome der Jahre 1917 bis 1920 liegen bis heute zu sehr im Schatten der beiden Weltkriege und der Shoah. Juden reagierten nicht nur mit zahlreichen Hilfs-, Rettungs- und Fluchtversuchen, sondern sie sammelten Dokumente, Berichte und Erzählungen. Diese Sammlung – das »Ostjüdische Historische Archiv« - erreichte 1920 Berlin und wurde zur Grundlage einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen zu den Pogromen von jüdischen Historikern wie Elias Tscherikower, Nahum Stif und Josef Schechtman. Wie interpretierten sie das Geschehen? Welche Rolle spielte ihrer Ansicht nach das antisemitische Stereotyp des ›jüdischen Bolschewismus‹? Was war eigentlich besonders an diesem Feindbild und warum fand es so rasche und nachhaltige Verbreitung nicht nur in Osteuropa? Wie diskutierten jüdische Intellektuelle unterschiedlichster Couleur in Berlin in den 1920er Jahren die extreme Gewalt im ehemaligen Zarenreich nach 1917?

Moderation Ingo Loose (Institut für Zeitgeschichte, Berlin)


Panel 4

Was blieb?

Nachfahren osteuropäisch-jüdischer Migranten erzählen

Familiengedächtnis repräsentiert sich als eine besondere Form von kollektivem Gedächtnis. Die Familie ist ein bewährtes, kleines soziokulturelles, auf seine natürliche Basis verweisendes und sich dadurch legitimierendes Kollektiv. Es beruht auf Zeitzeugenschaften, intergenerationellen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen. Im Familiengedächtnis dominieren die emotionalen Dimensionen über das kognitiv repräsentierte Wissen, die wiederum erfahrungs- und kulturabhängig sind. Die erste grundlegende Funktion eines derartigen Gedächtnisses ist es, die Familie zu stiften und immer wieder neu zu konstituieren. Das Familiengedächtnis in der jüdischen Tradition kann dafür als ein Paradigma gelten, denn in der Zerstreuung, angesichts von Verfolgung und in Lebensgefahr garantiert in erster Linie die Familie den Erhalt der Gemeinschaft, und das jüdische Familiengedächtnis ist dementsprechend ausgeprägt. Die Shoah jedoch brachte es an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Im Panel erzählen Nachfahren von mehr oder weniger prominenten osteuropäisch-jüdischen Migranten im Weimarer Berlin– Efrat Carmon, Mira Zakai, Ann Pasternak Slater und Zeev Lewin.

Das Gespräch (auf Englisch) führten Efrat Carmon (Jerusalem), Zeev Lewin (Ramat Gan), Ann Pasternak Slater (Oxford) und Mira Zakai (Givataim) Moderation Verena Dohrn (Osteuropa-Institut, FU Berlin) und Aubrey Pomerance (Jüdisches Museum Berlin)


Das Symposion wurde veranstaltet vom DFG-Forschungsprojekt »Charlottengrad und Scheunenviertel. Osteuropäischjüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre« am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin



English