Veröffentlicht von am 27. September 2012

Eine Ausstellung in Buchform

Buchseite mit Unterstreichungen und AnmerkungenIn England ist es ein unerwarteter Erfolg, der weltweit die Bestsellerleiter erklimmt: Edmund de Waals The Hare with the Amber Eyes (Der Hase mit den Bernsteinaugen) ist eine Ausstellung in Form eines Buchs. Darin erzählt der Autor, ein Keramikkünstler, die Geschichte seiner jüdischen Bankiersfamilie, den Ephrussis, und zwar anhand von Gegenständen, die von der Familie gesammelt, gepflegt und der nächsten Generation vermacht wurden.

Durch Edmund de Waals detaillierte Beschreibung gewinnen die Gegenstände erst eigentlich Bedeutung. Wer hat sie wann und wozu erworben? Was verraten sie über den Charakter, das Erbe und das Schicksal des Käufers? Unter den Gegenständen befindet sich der titelgebende »Hase mit Bernsteinaugen«, eine von 264 japanischen Netsuken, Schnitzfiguren aus Holz und Elfenbein, die in der Familie schon etliche Besitzer hatten. In Paris von Charles Ephrussi (1849–1905; er gilt als Modell für Marcel Prousts Titelfigur in Swanns Welt) und seiner verheirateten Liebhaberin erworben, verkörpern sie das Verschwiegene, Sinnliche und Exotische und sind Teil einer modischen Vorliebe für alles Japanische. Viele Jahre nach dem Ende der Affäre gelangen sie als Hochzeitsgeschenk in die Hände einer Cousine, Emmy Ephrussi (1860–1945), die sie als Spielzeugfiguren für ihre Kinder verwendet. Als ihr Palast von Nazioffizieren geplündert wird, versteckt eine Bedienstete, Anna, die Figuren in einer Matratze. Jetzt sind es deren Belastbarkeit, Handlichkeit und Vielseitigkeit, die im Vordergrund stehen und damit etwas über die Zeit aussagen. De Waal weißt uns darauf hin, dass der Wert, die Bedeutsamkeit und Bedeutung von Gegenständen unmittelbar gekoppelt sind an die Art, wie sie benutzt und beschrieben werden.

Der Hase mit Bernsteinaugen enthält eine wertvolle Botschaft für Museen, die schließlich immerzu historische Gegenstände sammeln, analysieren und kategorisieren. Welchen Wert die Gegenstände haben, hängt davon ab, wie wir sie erklären, wie wir Kuratoren ihre Epoche beurteilen und was wir von unserer eigenen Geschichte preiszugeben bereit sind. Und nicht zu vergessen: Papier ist geduldig. Die Geschichten, die wir heute über unsere Gegenstände erzählen, werden bestimmt schon in wenigen Jahren ganz anders klingen. (Edmund de Waal, The Hare with the Amber Eyes, New York: Farrar Straus & Giroux 2010, bzw. Der Hase mit den Bernsteinaugen, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2011)

Naomi Lubrich, Medien

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