»Wenn man ›Krise‹ als einen ›Wendepunkt‹ definiert, dann scheint das Nachkriegseuropa an einem solchen Punkt angekommen.«

Ein Interview mit Ines Pohl

Portrait von Ines Pohl

Ines Pohl; CC BY-NC 2.0 Deutsche Welle

Die Europäische Union steht momentan vor einer Zerreißprobe: das Austrittsbegehren Großbritanniens, die Zunahme rechtspopulistischer Bewegungen, fehlende Lösungen für die Fluchtbewegungen, Furcht vor Terroranschlägen und wirtschaftlicher Abstieg. In der Debatte um eine zukunftsfähige Politik wird dabei oftmals Bezug auf die Geschichte genommen.

Auf unserer Veranstaltung »Krisenzeiten« am  7. September 2016 möchten wir daher mit internationalen Gästen aus Großbritannien, Frankreich, Polen und Deutschland die Bedeutung der Vergangenheit für die gegenwärtige Politik der europäischen Staaten angesichts der aktuellen Probleme diskutieren. Zu Gast sind Dan Diner, Dietmar Herz, Étienne François, Hans Kundnani und Adam Michnik. Moderiert wird der Abend von  Ines Pohl, der wir vorab vier Fragen gestellt haben und damit den Blick auf die USA erweitern.

Nevin Ekinci: Frau Pohl, Sie sind seit Ende 2015 Korrespondentin der Deutschen Welle in Washington. Wie nehmen Sie aus der Ferne die Debatten um die aktuellen »Krisen« in Europa wahr? Würden Sie überhaupt von »Krisenzeiten« sprechen?

Ines Pohl: Europa scheint sich – wieder – zu einem Kontinent großer Unsicherheiten zu entwickeln. Vermeintliche Gewissheiten, politische wie wirtschaftliche Bündnisse, werden mindestens in Frage gestellt, teilweise sogar verlassen. Der Kampf um und für ein gemeinsames Europa wird aufgekündigt, bedrohliche Nationalismen übernehmen vielerorts die Diskurshoheit.  Wenn man »Krise« als einen »Wendepunkt« definiert, dann scheint das Nachkriegseuropa an einem solchen Punkt angekommen.

In den USA erleben wir gerade einen Wahlkampf, der sehr beunruhigend ist und in dem Migration und Flucht auch Thema sind. Spielen dabei ähnlich wie hier historische Bezugnahmen, vor allem auf die Fluchtbewegungen im Kontext des Zweiten Weltkrieges, eine Rolle?

Donald Trump spielt in seinem Wahlkampf vor allem mit den Ängsten, die mit den Veränderungen einer globalisierten Welt einhergehen. Er zeichnet ein Amerika, das es spätestens seit den 1970er Jahren nicht mehr gibt und auch nie wieder geben wird. Ein Land des unbegrenzten Wachstums und des ewigen Aufstiegs. Da er für diese Heilsversprechungen keine Konzepte hat, braucht er Schuldige, die er für die tatsächlichen Probleme im Land verantwortlich machen kann. Und das sind eben Einwanderer vor allem aus Lateinamerika.

Für wie tragfähig halten Sie die angeführten historischen Bezugnahmen?

Wenn Donald Trump davon spricht, Amerika wieder zu dem zu machen, was es einmal war, ist das überhaupt nicht tragfähig. Auch seine Überlegungen, sich aus militärischen Bündnisverpflichtungen zunehmend zu verabschieden und sich in erster Linie auf die unmittelbare Landesverteidigung zu konzentrieren, zeugen von einer großen politischen Naivität und Weltferne.

Was ist aus Ihrer Perspektive eine tragfähige politische Analyse der aktuellen Situation, die als Grundlage für die Diskussion über den Umgang mit der massenhaften Flucht und Migration dienen kann?

Um die Gegenwart zu verstehen und Lösungen für die Zukunft zu entwickeln, muss man seine Vergangenheit kennen. Je weniger sich Menschen mit ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Länder beschäftigt haben, desto leichter sind sie mit populistischen Scheinlösungen zu verführen.

Unsere reichen, westlichen Gesellschaften stehen vor der großen Aufgabe, mit Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einen Prozess zu organisieren, an dessen Ende mehr Menschen teilhaben an den Privilegien der Ersten Welt. Und das bedeutet in letzter Konsequenz ein Umdenken unseres Verständnisses von Wohlstand und Sicherheit. Die Geschichte kann uns dabei lehren, dass die Flucht in Nationalismen, in Aus- und Abgrenzung noch nie zu wirklich langfristigen Lösungen und einem relativen Frieden geführt haben.

Vielen Dank für das Interview.

Ines Pohl war von 2009 bis 2015 Chefredakteurin der taz. Seit Herbst 2015 ist sie Korrespondentin der Deutschen Welle in Washington und berichtet derzeit über die Präsidentschaftswahl in den USA. Zu Beginn des nächsten Jahres wird sie als Chefredakteurin der Deutschen Welle zurück nach Berlin kommen.

Die Fragen stellte Nevin Ekinci, Akademieprogramme Migration und Diversität, die gespannt auf die verschiedenen europäischen Perspektiven bei der Podiumsdiskussion ist.

Weitere Informationen zur Podiumsdiskussion »Krisenzeiten« am 7. September 2016 in unserem Veranstaltungskalender.

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