Kindgerechte Migrationsgeschichte

In der Woche vom 21. bis 27. Oktober 2013 finden in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin Lesungen, Workshops und ein Publikumstag unter dem Titel »VielSeitig. Eine Buchwoche zu Diversität in Kinder- und Jugendliteratur« in Kooperation mit Kulturkind e.V. statt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Abteilungen haben dafür zahlreiche Bücher gelesen, diskutiert und ausgewählt. Einige dieser Bücher wurden in den vergangenen Wochen hier bereits vorgestellt.
Aufgereihte Buchrücken von Kinder- und JugendbüchernAnders als in der deutschen Jugendliteratur, ist die Bandbreite an Kinderbüchern zum Thema Vielfalt noch ziemlich überschaubar. Meist geht es dort um Vielfalt im Tierreich oder um die Darstellung ›fremder‹ Kulturen am Beispiel von ausländischen Schulkindern, die ihre deutschen Schulfreunde zu einem Fest einladen. Dann wird wahlweise das jüdische Pessachfest, das muslimische Zuckerfest oder das chinesische Neujahrsfest nach ein und demselben Schema beschrieben: Die Mutter bereitet das Festmahl zu, der Vater erzählt eine Geschichte zum Ursprung des Festes und die Kinder warten das zentrale Festritual ab, bis sie schlafen gehen müssen. Eine Handlung im eigentlichen Sinne findet dabei selten statt.

Ingke Brodersen wählt einen anderen Weg: Aus der Sicht eines kleinen Jungen namens Sascha erzählt sie die Geschichte seiner Auswanderung aus Russland und seiner Ankunft in Berlin.

Sascha ist zwar noch im Kindergartenalter, scheint sich seiner familiären Herkunft aber sehr wohl bewusst zu sein. Ganz selbstverständlich erzählt er von seinen deutschen Vorfahren, die von der deutschstämmigen russischen Zarin, Katharina der Zweiten, vor über 200 Jahren ins Land geholt wurden. Außerdem erzählt er von seiner kirgisischen Großmutter, zu der er ein ganz besonderes Verhältnis hat, weshalb ihm der Abschied von ihr besonders schwer fällt.

Nach der Ankunft im grauen Berliner Herbst werden der triste Alltag im Wohnheim, die Verständigungsprobleme im Kindergarten und die Freundschaft zur gleichaltrigen Tschetschenin Samira in einer ausgesprochen authentischen Art und Weise beschrieben. Auch die Reaktion seines Vaters schildert Sascha mit herrlich kindlicher Naivität:

»›Du wirst dich lieber nicht mit dieser Samira treffen. Ein Russe freundet sich nicht mit einer Tschetschenin an. Russen und Tschetschenen mögen sich nicht.‹ ›Aber wir sind doch gar keine Russen, sagst du immer, sondern Deutsche.‹ Papa schwieg. Aber er sah zornig aus.«

Diese einfachen Worte eines Kindes offenbaren auf erfrischende Art die Absurdität ethnischer Schranken und Konflikte der vermeintlich allwissenden und unfehlbaren Erwachsenenwelt.
Am Ende arrangiert auch Saschas Vater sich mit der Freundschaft seines Sohnes zu einer Tschetschenin und zum Abschluss gibt es auch in diesem Buch ein Fest – ein interkulturelles russisch-deutsches Weihnachten.

Zwei Kinder vor Wohnhäusern, der Junge zeigt dem Mädchen eins der Häuser, Im Hintergrund der Fernsehturm

Buchcover © Carlsen

Beim Lesen habe ich mich in vielen Situationen in Sascha wiedererkannt. Ungefähr in seinem Alter bin ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern aus der damaligen Sowjetunion ausgewandert. Von den Eltern wurde mir das alles als eine große Urlaubsreise verkauft. Dennoch habe ich beim Abschied von meinen Großeltern gespürt, dass es sich um keine gewöhnliche Reise handeln wird. Über die Gründe für die Auswanderung und die Bedeutung unserer multiethnischen Familienkonstellation mit jüdischen, ukrainischen, russischen, finnischen und vielleicht auch deutschen Wurzeln habe ich mir wahrscheinlich erst als Jugendlicher ernsthaft Gedanken gemacht. Die Ankunft im seit wenigen Monaten wiedervereinten Berlin war ähnlich wie bei Sascha, um nicht zu sagen fast identisch: Heimweh, eine fremde Sprache, die Tristesse des Wohnheims und die Farbe grau, die in meiner Erinnerung an diese Zeit alles dominiert, was aber wohl eher an der Jahreszeit lag. Die Samira in meiner Geschichte hieß Marcin, ein Vorschulkamerad mit einer polnischen Mutter und einem georgisch-aserbaidschanischen Vater. Zunächst freundeten wir uns an und bald danach auch unsere Eltern, so dass auch wir die nötige Unterstützung bekamen, um hier Fuß zu fassen. Während ich all das schreibe, kommen immer weitere Erinnerungen aus dieser Zeit auf, die ich fast schon in einem früheren Leben erlebt zu haben scheine. Ein schönes Gefühl – ganz besonders jetzt, da nach so vielen Jahren in Deutschland der Prozess meiner Ankunft einen ehrenvollen Abschluss gefunden hat: Letzten Monat wurde ich eingebürgert.

Roman Labunski, Vielfalt in Schulen/Bildung

Ingke Brodersen, Sascha und sein neues Zuhause, Hamburg: Carlsen Verlag 2011, 24 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, ab 3 Jahren

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