»Zu dieser Zeit sah ich Gepeinigte vor ihren Peinigern stehn«

… vor 50 Jahren begann der Auschwitz-Prozess

Am 20. Dezember 1963 wurde im Plenarsaal des Frankfurter Römers die bis dato größte und längste bundesdeutsche Gerichtsverhandlung über die Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern eröffnet. Vor Gericht standen 22 ehemalige Angehörige der Lagermannschaft, die zwischen 1941 und 1945 im KZ Auschwitz gearbeitet hatten. Der ranghöchste Angeklagte und letzte Kommandant des Lagers Richard Baer war unmittelbar vor Beginn des Prozesses verstorben; gegen viele andere Personen wurde gar nicht erst Anklage erhoben – nicht zuletzt, weil fast alle Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus, wie etwa Totschlag, bereits als verjährt galten.

Ein Mann in Anzug und Krawatte an einem Schreibtisch

Hans Hofmeyer
© Schindler‐Foto‐Report

Da die bundesdeutsche Gesetzgebung die juristische Grundlage der alliierten Nachkriegsprozesse nicht in bundesdeutsches Recht überführt hatte, musste sich das Verfahren in Frankfurt am Main – ebenso wie die darauf folgenden NS-Prozesse – auf das Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1871 berufen. Dies hatte zur Folge, dass sich die Anklage auf Mord und Beihilfe zum Mord beschränkte und das Gericht unter Leitung des Vorsitzenden Richters Hans Hofmeyer abschließend beurteilen musste, ob die Angeklagten persönlich an Mordtaten beteiligt waren und damit gegen geltendes Recht verstoßen hatten.

Porträt von Fritz Bauer

Fritz Bauer
© Fritz Bauer Institut

Das Strafverfahren mit dem Aktenzeichen 4 KS 2/63, das im so genannten Auschwitz-Prozess mündete, war von dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer von langer Hand geplant und vorbereitet worden. Die Gerichtsverhandlung dauerte 20 Monate, doppelt so lang, wie ursprünglich vorgesehen, und fand ein breites Medienecho. Mehr als je zuvor berichteten deutsche und internationale Medien über den systematisch geplanten Massenmord in den Lagern und über die Täter, die ihn bereitwillig ausgeführt oder daran mitgewirkt hatten. Sie gingen dabei auch auf die Geschichten der 211 Auschwitz-Überlebenden ein, die im Zeugenstand aussagten.

Der Hessische Rundfunk berichtete in der »Hessenschau« am 20. Dezember 1963 über den ersten Gerichtstag. In diesem 13-minütigen Beitrag formulierte der ehemalige Auschwitz-Häftling Franz Unikower auf verblüffend nüchterne Weise, was die Überlebenden von dem Prozess erwarteten:

»Es ist nicht das Gefühl der Rache, das uns bei Beginn dieses lange vorbereiteten Prozesses beherrscht. Es ist für uns eine – wenn auch tragische – Genugtuung, dass nach so vielen Jahren nun in genauester Weise darüber Beweis zu erheben ist, wer und in welchem Umfange sich an schweren Straftaten im Lager Auschwitz beteiligte.«

Porträt von Franz Unikover

Franz Unikower
© Bundesarchiv

Die Film-Installation im Kapitel »Vor Gericht« unserer Dauerausstellung zeigt unter anderem diesen Beitrag der »Hessenschau«, in dem nicht nur die Aussage von Franz Unikower, sondern auch die überfüllten Reihen der Besucher im Frankfurter Plenarsaal zu sehen sind. Schätzungsweise 20.000 Gäste wohnten der Hauptverhandlung bei. Unter diesen befanden sich viele Schriftsteller und Intellektuelle, wie Hannah Arendt, Inge Deutschkron, Marie Luise Kaschnitz, Henry Miller, Robert Neumann, Horst Krüger und Peter Weiss. Ihre Texte zeigen, wie erschütternd die Ausführungen der Überlebenden und die Reaktionen der Angeklagten gewesen sein müssen. Peter Weiss etwa notierte in seiner »Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia« (in: Rapporte. Frankfurt/Main 1981 [1968], S. 133 f.):

»Zu dieser Zeit sah ich Gepeinigte vor ihren Peinigern stehn, letzte
Überlebende vor denen, die sie zur Tötung bestimmt hatten, […]
Namenlose auf beiden Seiten, nur Übriggebliebene
aus einer umfassenden Entwertung, nur Stammelnde, Verständnislose,
vor einem Gerichtshof, der trübe zerfließende Grausamkeiten ermittelte […].«

Der Auschwitz-Prozess gilt als Zäsur und Wendepunkt im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Er brachte einen Prozess in Gang, der viel bedeutsamer war als das Gerichtsverfahren selbst: Den Prozess der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland.

Monika Flores Martínez, Dauerausstellung, und Mirjam Wenzel, Medien

Kommentiert von Volker Röh am 26. Dezember 2013, 22:03 Uhr

Dieser Prozess fand immerhin statt. In einer Zeit, die geprägt war von der Verdrängung der Erinnerung an diese schandvolle Episode der deutschen Geschichte, war das schon ein wichtiges Zeichen.

Kommentiert von Siegfried Bernhard am 24. Februar 2016, 22:16 Uhr

Geschrieben nach Anschauen des Films „Akte General“ über Fritz Bauer.
Mit der Erkenntnis, daß der Prozess zwar ein Zeichen war, mehr aber auch nicht. Der Prozess wird mir deshalb so in Erinnerung bleiben, weil wir als Abiturienten 1966 an einer Oberschule der DDR „Die Ermttlung“ von Peter Weiss aufführten. Die nächste Erinnerung stammt aus 1995 von einem Amtsgericht in Brandenburg, wo ich als Schöffe tätig war. Dort fragte ich einen aus den alten Bundesländern abgeordneten Richter, warum sich erst jetzt, 50 Jahre nach Kriegsende, der Deutsche Richterbund von der NS-Unrechtsjustiz distanziert hat. Antwort eines bundesdeutschen Richters: Das ging nicht früher, man hätte sich ja eventuell von einem Kollegen distanzieren müssen!
Fritz Bauers letzter Satz, Gesetze sind nicht auf Papier, sondern auf Menschenhaut geschrieben, müßte deshalb noch ergänzt werde…und in die Hirne von Menschen. Wie die aktuelle Krise der Moral einer ganzen Gesellschaft zeigt, ist die Unmoral noch sehr tief verwurzelt. Erst wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, man muß nicht Jude oder Christ, Moslem oder Atheist, sonder ausschließlich Mensch sein, kann man wieder Hoffnung schöpfen.

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