Veröffentlicht von am 15. März 2015 0 Kommentare

»Es wäre aber in diesem Falle die beste Lösung, wenn ein Mädel käme.«
Einblicke in eine innerjüdische Beschneidungsdebatte aus dem Jahr 1919

Kurz nach Eröffnung der Wechselausstellung »Haut ab!« wurde dem Jüdischen Museum Berlin der Nachlass von Fritz Wachsner (1886-1942) geschenkt. Das darin überlieferte Konvolut von Briefen ist so umfangreich, dass ich bei der Inventarisierung nicht immer genügend Zeit habe, um mich in die einzelnen Schriftstücke zu vertiefen. Bei einem Brief bleibe ich jedoch hängen. »[…] Dein Gutachten über die Frage der Beschneidung […]«, schrieb Wachsner am 24. Juli 1919 an Anselm Schmidt (1875-1925), den Onkel seiner – damals hochschwangeren – Ehefrau Paula. Ich lese mich fest und befinde mich plötzlich inmitten einer innerjüdischen Beschneidungsdebatte, die vor fast einhundert Jahren geführt wurde.

Atelier-Fotografie von einem Paar mit einem ca. vierjährigen Kind

Fritz Wachsner mit seiner Frau Paula und seiner erstgeborenen Tochter Charlotte, Atelieraufnahme, ca. 1916 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer, Schenkung von Marianne Meyerhoff

Fritz Wachsner, seinerzeit Lehrer im brandenburgischen Buckow, legt in dem fünfseitigen Brief die Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber der Brit Mila dar. Er war ein assimilierter deutscher Jude und gehörte der Jüdischen Reformgemeinde an. Gegenüber seinem Onkel erklärte der 33-Jährige, dass er »ziemlich orthodox erzogen« worden sei, dann aber im Verlauf seines Studiums an den Universitäten in Berlin und Jena sowie an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums zu Berlin, »den Geist des Judentums frei von allem undeutschen Beiwerk kennen und schätzen« gelernt habe. Er sei dabei zu der Überzeugung gelangt, dass der religiöse Kultus sich ständig weiter entwickeln und »zeitgemäss weiterbilden« müsse. Wachsners Maxime: »Werdet Deutsche, auch im Kultus« bekommt insbesondere dann einen überaus bitteren Beigeschmack, wenn man weiß, dass er am 5. September 1942 nach Riga deportiert und ermordet wurde.

In dem Brief an Anselm Schmidt führt Wachsner vor allem »religionsgeschichtlich[e]«. Argumente gegen die Beschneidung an: Sie gehe auf das heidnische Menschenopfer zurück, das mit der »Einführung des Monotheismus« insofern überwunden worden sei, als fortan »anstelle des ganzen Menschen« nur noch die Vorhaut geopfert wurde. Nach Wachsners Meinung war die Beschneidung ein »orientalisch[]-heidnische[r]« Brauch, der dem Judentum letztlich wesensfremd sei. Er stellte in Abrede, dass man diesen Brauch als Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk verstehen müsse. In Wirklichkeit definierte sich die Zugehörigkeit zum Judentum seiner Meinung nach ausschließlich über die »Anerkennung des einig-einzigen Gottes«.

Anmeldebuch von Fritz Wachsner an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums

Studienheft der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums für Fritz Wachsner (Titelseite), 1911-1913 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer, Schenkung von Marianne Meyerhoff

Vor allem bei seinen »kreuzbraven« Schwiegereltern, die im oberschlesischen Gleiwitz lebten, aber auch bei seinen eigenen Eltern in Berlin, stieß Wachsner mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Brit Mila auf Unverständnis. Er weigerte sich aber, dem Druck der Familie nachzugeben, und reklamierte für sich das Recht und auch die Pflicht, entsprechend seiner Überzeugung zu handeln und »gegen Gott und die Welt ehrlich zu bleiben«, auch auf die Gefahr hin, dass er damit Familienangehörige »kränken« werde.

Nach der Lektüre dieses Briefes schaue ich mir die gesamte Korrespondenz aus den Sommermonaten 1919 an und prüfe, ob weiterhin über die Beschneidung diskutiert wird. Insgesamt sieben Briefe, geschrieben von verschiedenen Korrespondenzpartnern, sind es schließlich, mit deren Hilfe sich die Aufregung rekonstruieren lässt, die in jenen Tagen im Hause Wachsner herrschte.

Vom 27. Juli 1919 datiert ein Brief seines Onkels und »väterlichen Freund[es]« Leo Timendorfer (1855-1927). Ihn hatte er offenbar von Anfang an in seine Überlegungen einbezogen. Timendorfer bestärkte Wachsner. In einem weiteren Brief, geschrieben am 30. August 1919, führte er aus, warum er selbst der Beschneidung ablehnend gegenüberstehe.

Wachsners Mutter Fanny (1857-1942) schrieb derweil am 8. August 1919 an ihren Sohn: »Noch weiß man nicht, was der liebe Herrgott schickt, aber man muss doch mit beiden Fällen rechnen; ganz gleich ob Mädchen oder Knabe, eines wird Euch so lieb sein wie das andere, nur muss es gesund sein & die Mutter darf nicht zu viel leiden.« Für den Fall, dass das Kind männlich sei, bat sie ihren »geliebte[n] teure[n] Fritz«, den Sohn beschneiden zu lassen. Das Ritual sei zwar »nicht mehr zeitgemäß«, aber es schade auch niemandem. Ganz pragmatisch argumentierend, führte sie schließlich aus, dass es keines großen Aufhebens um die Brit Mila bedürfe: »Die beiden Großväter & Du, das genügt vollständig«. Einen Beschneider (Mohel) werde sein Vater mitbringen. Dieser werde »die Behandlung« versehen und »nachher nochmals nachsehen« kommen, sodass ein Arzt nicht nötig sei.

mehrere Briefe aus dem Jahr 1919

Korrespondenz von und an Fritz Wachsner betreffend das Für und Wider der Beschneidung, 29.07.-30.08.1919 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer, Schenkung von Marianne Meyerhoff

Zwei Tage später schrieb sodann Schwiegervater Arnold Pese an Fritz Wachsner. Der Inhaber eines Geschäfts für »Haus-, Küchen- und Hotel-Einrichtungen« sah sich zu einer Reaktion gezwungen, wohl wissend dass er der Argumentation seines studierten Schwiegersohnes kaum gewachsen war: »Und wenn ich Deinen gelehrten Zeilen kaum Herr sein kann, so will ich es doch versuchen, meine Ansicht zum Ausdruck zu bringen«. Pese wies Wachsners abfällige Bemerkung, dass es sich bei der Beschneidung nur um »eine übliche Orient Sitte« handele, zurück. Es sei eine »Vorschrift u. Gesetz in unserem Talmud«. Aus der Tora zitierend, betonte Pese »die Wichtigkeit der Beschneidung« als Zeichen des Bundes mit Gott. Er flehte Wachsner regelrecht an, über seinen Schatten zu springen, und verblieb »mit innigem Gruße«.

Überliefert ist auch ein Brief von Dr. Joseph Lehmann (1872-1933), seines Zeichens Vorkämpfer der jüdischen Reformbewegung und Prediger an verschiedenen liberalen Synagogen in Berlin. Nach ihm sollte nach seinem Tod die 1935 gegründete Joseph-Lehmann-Schule in Charlottenburg benannt werden, deren Gründungsdirektor Fritz Wachsner wurde. In seinem kurzen Brief vom 22. August 1919 stimmte Lehmann den »Darlegungen« Wachsners »wortwörtlich zu«.

Schwarz-Weiß Fotografie eines Hochzeitspaares

Ernst Wachsner wurde nur 23 Jahre alt. Zusammen mit seiner Frau Margot wurde er am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer, Schenkung von Marianne Meyerhoff

Der Geburtstermin rückte derweil immer näher. Am 27. August 1919 meldete sich auch Wachsners Schwiegermutter Adele Pese (1871-1942) zu Wort: Sie gestand ihm, »schlaflose Nächte« wegen des Streits in der Familie zu haben. In großer Sorge um das Wohlbefinden ihrer Tochter, bat sie Fritz Wachsner, »falls wirklich ein Junge kommt, es Paula bei der Geburt nicht gleich zu sagen (erst später)«, damit sie sich nicht zu »sehr aufrege[]«. »Es wäre aber in diesem Falle die beste Lösung, wenn ein Mädel käme«, schloss Pese ihren Brief.

Es war schließlich ein Junge, den Paula Wachsner zur Welt brachte: Ihr Sohn Ernst wurde am Sonntag, den 31. August 1919 geboren. Ob er am achten Tag beschnitten wurde, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Glückwünsche zur Brit Mila sind nicht überliefert, was aber nichts beweist, da die Familiensammlung ohnehin nur fragmentarisch erhalten ist. Zu einem befürchteten Bruch innerhalb der Familie kam es jedenfalls nicht, man blieb auch weiterhin herzlich miteinander verbunden.

Jörg Waßmer, Archiv, hat das Findbuch zum Nachlass von Fritz Wachsner fertiggestellt

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