Mensch oder Macht?

Eindrücke von der Ausstellung »Gehorsam« aus muslimischer und christlicher Sicht

Während der Langen Nacht der Museen konnten unsere Besucherinnen und Besucher die aktuelle Sonderausstellung »Gehorsam. Eine Installation in 15 Räumen von Saskia Boddeke & Peter Greenaway« auf besondere Art und Weise neu entdecken. Die Imamin Emine Erol und die Pfarrerin Silke Radosh-Hinder boten gemeinsame Führungen an. Wir haben die beiden gefragt, welche Erfahrungen sie dabei gemacht haben und ob ihnen die gemeinsamen Führungen neue Erkenntnisse und Perspektiven auf die biblische Geschichte eröffnet hat.

Frau Erol, Frau Radosh-Hinder, wie würden Sie die Ausstellung mit eigenen Worten beschreiben?

Silke Radosh-Hinder: Für mich ist die Ausstellung vor allem ein multiperspektivischer Näherungsparcours an die Erzählung  der Bindung Isaaks.

Emine Erol: Im Zentrum der Ausstellung »Gehorsam« steht die seelische Verfassung von Ismael/Isaak und seinem Vater Abraham. Über das menschliche Fühlen und Denken sollen auch die Besucherinnen und Besucher am Schluss begreifen, dass solche Hingabe gefährlich und fast tödlich erscheint und was dahinter steckt.

Damit wird ihnen eine neue Perspektive auf die Thematik eröffnet: Avram oder Abraham entschließt sich aufgrund seines Eides zu Allah zur Opferung seines Sohnes. Aus archäologischen Funden ist bekannt, dass es zu Abrahams Zeiten sehr viele Formen des Menschenopfers gab und dass es auch nicht unüblich war, den erstgeborenen Sohn einer höheren Instanz zu opfern.

Ismael wiederum ist mit seinem nefs konfrontiert, das ist ein Begriff aus der islamischen Psychologie und meint das reine, vollkommene Ich im Inneren des Menschen, welches aber auch anfällig für die Einflüsterungen des Teufels ist, die sogenannte Triebseele. Ismael entscheidet sich jedoch gegen dieses Ego und ist zu seiner eigenen Opferung bereit. Ein Grund mag das Vertrauen in den Propheten Abraham sein, der gleichzeitig sein Vater ist. Am Ende sorgt der Wille einer höheren Instanz dafür, dass dieser Opferungsakt nicht ausgeführt wird.

Gab es für Sie ein Objekt, ein Kunstwerk oder einen Film, der Sie besonders angesprochen oder zum Nachdenken angeregt hat?

Vier Frauen stehen in einem mit weißen Federn ausgekleideten Raum, an der Decke hängt ein Kunstwerk: Flügel aus Händen

Im Raum »God and the Angel« © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Svea Pietschmann

Erol: Der weiße Raum mit dem Namen »God and the Angel« hat mich sehr berührt. Dort sind Engelsflügel zu sehen, die aus menschlichen Händen bestehen und damit auf die direkte Verbindung zu Allah deuten. Denn die Engel wurden aus dem Licht von Allahs Antlitz erschaffen und der Engel Chibril oder Gabriel verändert mit seinem Auftauchen die Geschichte der Opferung Ismaels vollkommen und bildet damit einen Höhepunkt der Abraham/Ismael-Geschichte. Ich musste sofort an die Sure »Fatir« denken, die 35. Sure im Qu’ran, die mit der Erzählung von den Flügeln der Engel beginnt und deren Name auch wortwörtlich ›Flügel‹ bedeutet.

Außerdem hat mich der Film über Sara und Hagar zum Nachdenken gebracht: Sara trägt edle, ›europäische‹ Kleidung, hat blaue Augen und eine weiße Hautfarbe und ist viel größer als die dunkelhäutige, schwarzhaarige Hagar, die in Lumpen gekleidet ist und damit als Sklavin dargestellt wird. Aus muslimischer Sicht ist Hagar nicht gut besetzt, denn nach wichtigen Quellen ist sie eine Prinzessin mit königlichem Blut.

Radosh-Hinder:  Auch mir sind die Flügel aus Händen besonders in Erinnerung, aber aus einem anderen Grund: Sie verlassen den üblichen Duktus der Lieblichkeit von Engeln. In der Tatsache, dass sie Hände ohne Körper sind, sind sie auch ein bisschen bizarr oder abstoßend. Ansonsten sind in der Ausstellung ziemlich häufig vereinfachte Gegenüberstellungen von ›gut‹ und ›böse‹ – ›weiß‹ und ›schwarz‹, ›Engel‹ und ›Teufel‹ zu finden, was mich enttäuscht hat. Da ist der Diskurs doch eigentlich schon weiter.

Was ist für Sie der zentrale theologische Begriff der Erzählung?

Radosh-Hinder: Tatsächlich ist der Titel der Ausstellung »Gehorsam« sehr passend gewählt, weil sich in ihm die zentrale Frage kristallisiert: Welche Form von ›Gehorsam‹ ist in dieser hoch dramatischen Geschichte eigentlich gefragt?

Erol: Die Erlösung in Form von Barmherzigkeit und die Erkenntnis nach der Hingabe! Allah lehrt den Menschen in dieser Geschichte, dass Menschenopfer falsch sind. Der bereits erwähnte Ritus, das zu Abrahams Zeiten übliche Menschenopfer, wird mit der Abrahamsgeschichte entleert.

Welche Rolle spielt die Abrahamsgeschichte in Ihrer alltäglichen Arbeit?

Erol: Die Abrahamsgeschichte enthält sehr viel ›Menschsein‹, die Vermischung von Gut und Böse, und hebt den göttlichen Schutz hervor. Im Alltag versuche ich der Erkenntnis näher zu kommen, was im Guten für mich das Böse beinhaltet und umgekehrt. Abraham entscheidet sich schon als junger Mann gegen Rituale und den Götzendienst seines Volkes. Er entkommt mit seiner Flucht und sein einziger Halt ist die Erkenntnis der Einzigartigkeit Gottes. Aber ist er sich darüber bewusst, dass er mit der Opferung seines Sohnes einem Menschenritus Gehör gibt?

Eine Frau mit kurzen Haaren und Brille spricht in ein Mikrofon

Silke Radosh-Hinder während der Führung © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Svea Pietschmann

Radosh-Hinder: In meinem Alltag spielt die Geschichte immer dort eine Rolle, wo es um Machtkonstellationen geht und um die Frage: Welche Stimme ist Gottes Stimme, der wir als Menschen so viel Vertrauen schenken müssen, dass wir entsprechend handeln? Dabei ist entscheidend, diese Frage vom Ende her zu beantworten, also von der klaren Aussage, dass Gott dieses Opfer nicht will – und daher verhindert.

Abschließend würden wir gerne wissen, ob Ihnen der Ausstellungsbesuch und besonders die Gespräche während der Langen Nacht der Museen eine andere Perspektive auf die Erzählung eröffnet haben?

Radosh-Hinder: Unbedingt! Es war und ist eine nachhaltig großartige Erfahrung! Die Perspektiven innerhalb von Judentum, Islam und Christentum, die in sich selbst ja auch multiperspektivisch sind, eröffnen weitere Fragen an die Geschichte und an ihre Rezeption. Meine spezifisch neue Perspektive ist die Frage der Identifikationsfigur: Mit wem identifiziert sich eine Religion oder religiöse Gemeinschaft eher – und warum? Diese Frage kritisch zu beleuchten angesichts der Tatsache, dass es sich um eine so zentrale Erzählung handelt, hat Neues eröffnet.

Erol: Gerade die Führungen mit Silke Radosh-Hinder und das gemeinsame Nachdenken darüber, wie wir diese Geschichte verstehen und deuten können und die hervorragenden Fragen der Besucherinnen und Besucher haben mir neue Erkenntnisse und Gedanken gebracht. Gleich zu Beginn im Engels-Raum haben wir beispielsweise darüber diskutiert, wie die Geschichte in unterschiedlichen Quellen dargestellt wird. Das ist mir noch immer lebhaft in Erinnerung.

Emine Erol ist Internationale Islamische Theologin und Religionsbeauftragte der Şehitlik-Moschee und Vertreterin des Präsidiums der Religionsbehörde der Türkischen Republik; Silke Radosh-Hinder ist evangelische Pfarrerin und stellvertretende Superintendentin im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte. Die Fragen stellte Signe Rossbach, die es sehr genossen hat, die beiden bei ihrer Führung zu begleiten.

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