Veröffentlicht von am 23. Mai 2016 0 Kommentare

»Jegliche Kunst ist heutzutage unangemessen, die Inhumanität der Welt zu repräsentieren«

Ein Gespräch mit Peter Weibel über Boris Lurie als ultra-realistischen Neo-Avantgardisten und Pornografie als Metapher der kapitalistischen Gesellschaft

Bunte Collage mit gelbem Stern und den Worten »A Jew Is Dead«

Boris Lurie, »A Jew is dead«, 1964; Boris Lurie Art Foundation, New York, USA

Mirjam Bitter, Blogredaktion: Im Begleitprogramm zu unserer Boris Lurie-Retrospektive halten Sie am 30. Mai 2016 bei uns im Museum einen Vortrag zum Thema »Der Holocaust und das Problem der visuellen Repräsentation« (weitere Informationen in unserem Veranstaltungskalender). Ist damit die These verbunden, dass der Holocaust ein zentraler Aspekt in Boris Luries Werk ist?

Porträtfoto, lächelnd mit Hand am Kinn

Peter Weibel
© ONUK

Peter Weibel: Für die Neo-Avantgarden nach dem 2. Weltkrieg waren der Krieg und der Holocaust, Hiroshima und Nagasaki zentrale traumatische Erfahrungen. Nehmen Sie zum Beispiel das Bild »Hiroshima« (1961) von Yves Klein und das Environment »Zeige Deine Wunde« von Joseph Beuys (1974–1975). Viele Künstler antworteten auf die erlebte Inhumanität mit einer Infragestellung des Humanismus und sogar der Kultur: Warum haben Literatur, Malerei, Musik, Philosophie diese Barbarei des 20. Jahrhunderts nicht verhindern können?

Nach 1945 befand sich Europa am Nullpunkt des Seins und des Sinns. Die Künstler übten sich in Abwehrmechanismen, um das Trauma zu verarbeiten. Zu den wichtigsten Abwehrmechanismen des Ich zählt, so Anna Freud (1936), die »Reaktionsbildung« (reaction formation), die das negative Ereignis in einer Art positiver Übertragung zu neutralisieren versucht. Daher haben die Künstler die Zerstörung der Kultur durch die Nazis selbst als Reaktionsformation durch ihre Zerstörung von Leinwänden, Klavieren etc. fortgesetzt.

Jean Tinguelys »Homage to New York« am 17. März 1960 im Museum of Modern Art

Das Ergebnis war eine Krise der Repräsentation, die soweit ging, dass die Selbstzerstörung der künstlerischen Darstellungsmittel zu einer Selbstdarstellung führte, siehe die Auto-Destructive Art von Gustav Metzger Anfang der 1960er oder Jean Tinguelys »Homage à New York«, eine autodestruktive Skulptur (1960). Wie für viele Neo-Avantgardisten war daher der Holocaust ein zentrales Thema im Werk von Boris Lurie.

Ein Raum mit schwarzer Decke und weißen Wänden, an denen Ölgemälde und Collagen hängen

Blick in den ersten Raum der Boris Lurie-Retrospektive im Jüdischen Museum Berlin mit Werken der »Dance Hall Series«, der »Saturation paintings« sowie der »Love Series«;
Jüdisches Museum Berlin, Foto: Yves Sucksdorff

Unsere Programmdirektorin Cilly Kugelmann sagte hier im Blog, dass Boris Lurie zwar von seinen Verfolgungs- und Lagererfahrungen während der NS-Herrschaft geprägt war, er aus ihrer Sicht aber nicht als »Holocaust-Künstler« zu bezeichnen sei. Teilen Sie diese Haltung?

PW: Ich teile die Meinung von Cilly Kugelmann. Lurie war ein Künstler, der im Sinne der Frankfurter Schule handelte, die lehrte: Wer zum Kapitalismus schweigt, soll vom Faschismus nicht sprechen. Kritik des Kapitalismus und der Konsumgesellschaft waren zentrale Themen von Lurie. Die Unterscheidung ist also richtig, Lurie ist kein Holocaust-Künstler, obwohl der Holocaust von zentraler Bedeutung in seinem Werk ist.

Sie bezeichnen Boris Luries Antwort auf das Problem der Repräsentationsfähigkeit der Kunst nach dem Holocaust als »Ultra-Realismus«. Würden Sie unseren Leser*innen erklären, was Sie damit genau meinen?

PW: Zu Auschwitz gibt es bekanntlich eine sehr berühmte Antwort von Theodor W. Adorno: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« (1949/1951) Diese Aussage bedeutet das Ende der Repräsentationsfähigkeit von Kunst, eine Verweigerung, einen ikonoklastischen Impuls in Übereinstimmung mit den abstrakten Tendenzen der Neo-Avantgarde.

Eine Dose mit der Aufschrift »Giftgas Zyklon« und einem Totenkopf auf einem Haufen weiterer solcher Dosen

Zyklon-B-Dose, Aufnahme aus der Ausstellung im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau; Michael Hanke, Zyklon B Container, CC BY-SA 3.0

Auf der anderen Seite wurde 1960 das Manifest »Nouveau Réalisme« publiziert, das Künstler vorstellte, die reale Gegenstände des Alltags ausstellten. Genau diese realistische Position vertrat ausgerechnet einer der Begründer der Holocaust-Forschung, Raul Hilberg, in seiner Autobiografie Unerbetene Erinnerung (1994). Auf die Frage, wie man den Holocaust darstellen könnte, antwortet er: »[…] eine Dose Zyklon-B-Gas […], mit dem die Juden in Auschwitz und Majdanek getötet wurden. Ich wollte, dass eine einzige Dose in einem kleinen, sonst leeren Raum auf einem Podest stand – als das Symbol für Adolf Hitlers Deutschland, so wie einst die im Metropolitan Museum of Modern Art isoliert ausgestellte Vase des Euphronios als Inbegriff der griechischen Antike erschien.«

Lurie greift auch auf Pornografie zurück, um eine aus seiner Sicht obszöne Gesellschaft darzustellen. War das zu seiner Zeit etwas Neues? Oder reiht er sich damit in eine bestimmte Kunsttradition ein?

Collage aus einem Zeitungsfoto von KZ-Häftlingen umringt von Pin-up-Fotos

Boris Lurie, »Saturation Painting (Buchenwald)«, 1959–1964; Boris Lurie Art Foundation, New York, USA

PW: Mit dem 1967 erschienenen Buch Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord, dem Begründer des Internationalen Situationismus, und einem kurzfristigen Mitglied dieser Bewegung, Jean Baudrillard, begann sich die Metapher der universalen Pornografie der kapitalistischen Gesellschaft auszubreiten. In der Warengesellschaft, in der nichts einen Wert, aber alles seinen Preis hat (um Oscar Wilde zu paraphrasieren), in welcher der Tauschwert unabhängig vom Gebrauchswert frei flottiert, also alles zu einem käuflichen Tausch bzw. zur Ware wird, ist das pornografische Moment unverkennbar. Lurie reiht sich in diese Tradition und Kritik ein, die Obszönität der kapitalistischen Kredit- und Tauschgesellschaft darzustellen.

Würden Sie sagen, dass seine Werke heute eine andere Wirkung entfalten als zu ihrer Entstehungszeit? Müsste man heute zu anderen künstlerischen Mitteln greifen, um dieselbe radikale Kompromisslosigkeit an den Tag zu legen?

Ein Jutebeutel mit der Aufschrift »Boris Lurie NO ART BAG«, aufgeklebten Pin-up-Fotos und einem gelben Stern

Boris Lurie, »No Art Bag«, 1960–1970; Boris Lurie Art Foundation, New York, USA

PW: Lurie hat die ikonoklastischen Impulse der Neo-Avantgarden mit der Begründung der NO!art am weitesten getrieben, das heißt mit seiner Erklärung, jegliche Kunst sei heutzutage unangemessen, um die Inhumanität der Welt zu repräsentieren. In der Analyse stimmte er mit Adorno überein, allerdings war er in der Antwort Hilberg näher.

Vor den Realisten gab es ja die Affichisten, die zerrissene öffentliche Plakatwände zu Kunstwerken erklärten. Die Kontingenz von Collagen unterschiedlichsten Materials, Werbung für Luxus-Artikel und Bilder von Katastrophen, zeigte sogar im öffentlichen Raum, dass für die öffentlichen Medien alles gleichwertig und alles gleichgültig ist – sei es ein Verbrechen, sei es eine Blume, sei es ein Konsumartikel.

Dieses Prinzip hat Lurie bekanntlich so empört, dass in Magazinen und Zeitungen Fotos vom Holocaust neben Werbung für Bikinis zu sehen sind. Lurie hat in seinen Montagen nur das veröffentlicht, was bereits veröffentlicht war, also einen Re-Entry (Niklas Luhmann), einen Wiedereintritt des Öffentlichen in die Öffentlichkeit vollzogen. Lurie war ein Medienkünstler, der den Massenmedien einen Spiegel vorgehalten hat. Die Fratze, das Monströse, das Obszöne, das sie darin erkennen, sind nur sie selbst. Die Gesellschaft trifft daher im obszönen Werk Luries auf sich selbst.

Ich persönlich würde sagen, seine künstlerischen Mittel sind heute noch so angemessen wie zu seinen Lebzeiten. Mehr noch: Heute, wo die Marktkunst in den Medien und Museen dominiert, kommt seiner Absage an die Kunst als Teil des Systems, seiner Verurteilung der Kunst als Komplize und nicht Kritik der Marktmechanismen, eine noch größere Bedeutung zu.

Prof. Dr. h.c. mult. Peter Weibel ist Künstler und Ausstellungskurator und leitet das Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe.

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