Der tödliche Anschlag auf eine Vision vom Frieden

Erinnerungen an den 4. November 1995

Porträtzeichnung einem Mannes in Anzug und Krawatte

Jitzchak Rabin, gezeichnet von Chaim Topol
CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Heute vor 20 Jahren, am 4. November 1995, wurde der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin nach Ende einer Friedenskundgebung im Zentrum von Tel Aviv ermordet. Mirjam Wenzel war damals vor Ort:

»Es war ein lauwarmer Abend und auf dem Kikar Malchei Jisrael (hebr.: ›Platz der Könige Israels‹, heute Jitzchak Rabin Platz genannt) inmitten von Tel Aviv drängten sich Menschen mit Transparenten und Botschaften wie etwa ›Schalom Achschaw‹ oder ›Peace Now‹, um Jitzchak Rabin und Shimon Peres ihre Unterstützung auszusprechen und für den Frieden zu demonstrieren. Die Anfeindungen der nationalreligiösen Bewegung auf die Regierung waren in den Wochen zuvor immer heftiger geworden und die Medien berichteten von Schildern in der Hand von demonstrierenden Männern, die Rabin in SS-Uniform zeigten. Dass diese Angriffe tödlichen Charakter haben könnten, vermochte sich – zumindest in meinem Umfeld – allerdings niemand vorzustellen. Im Tel Aviver Büro der Friedrich Ebert-Stiftung, in dem ich damals ein Praxissemester absolvierte, betrachtete man den Osloer Friedensvertrag in politischer wie ökonomischer Hinsicht als irreversible Tatsache.

Dementsprechend nahm ich an der Kundgebung auch weniger teil, weil ich meinte, die Regierung unterstützen zu müssen, sondern vor allem um den Auftritt von Aviv Geffen zu erleben. Die schillernde wie schrille Figur der israelischen Popkultur galt unter Jugendlichen als ein Rebell, der verdeutlichte, dass sich die Zeiten geändert hatten, Tel Aviv dabei war, zu einer internationalen Metropole zu werden und man auch ohne Militärdienst Teil der israelischen Gesellschaft sein konnte. Nachdem Aviv Geffen »Liwkot Lecha« (hebr.: »Um dich zu trauern«) gesungen hatte – ein Lied der Trauer um einen Freund, das zur Trauerhymne um Rabin werden sollte –, bin ich nach Hause gegangen. Wenig später traf ich eine Freundin in einer Bar in Florentin. Dort haben wir von dem Mord erfahren.

Jede*r Israeli erinnert sich heute daran, wo er oder sie an jenem Abend war und welche Lähmung in Tagen danach über dem Land lag. Jede*r ahnte, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.«

Eine Frau hält eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand, auf der ein Bild von Yitzchak Rabin und eines von der Friedenskundgebung abgedruckt ist.

Mirjam Wenzel hat die Ausgabe der israelischen Zeitung Maariv vom 5. November 1995 aufbewahrt, die sich ausschließlich mit dem Anschlag auf Rabin befasste. Über den Fotos von Rabin und der Friedenskundgebung steht hier in Hebräisch »Der Moment zuvor«.
CC-BY Jüdisches Museum Berlin, Foto: Mirjam Bitter

Tatsächlich verglich unser etwas jüngerer israelischer Kollege Yaniv Feller die Erinnerung an den 4. November 1995 mit der Frage an Deutsche: »Wo warst du beim Mauerfall?«. Nicht alle waren vor Ort oder haben sofort mitbekommen, was damals geschah – auch wenn es im Nachhinein jedem so vorkam. Yaniv ging 1995 noch in die Schule und schildert den damaligen Abend so:

»Es war relativ spät, deshalb war ich schon im Bett und las vor dem Schlafen noch ein Buch. Vielleicht schlief ich auch schon. Mein Bruder und Vater saßen im Nebenzimmer und schauten Fußball, Maccabi Haifa gegen Beitar Jerusalem, glaube ich. Ein gewöhnlicher Samstagabend. Das Telefon klingelte. Meine Oma. Rabin wurde erschossen, mehr weiß man nicht. Mein Bruder und mein Vater schalteten sofort zu den Nachrichten um. Auch ich rollte vom Bett und habe bis spät in die Nacht Fernsehen geschaut. In den folgenden Tagen wurde in der Schule natürlich viel mit uns darüber diskutiert. Rückblickend hat Rabins Ermordung wahrscheinlich zur Entwicklung meines politischen Bewusstseins beigetragen. Sofort hat sie mich aber nicht beeinflusst. Ich war nicht eines der ›Kerzen-Kinder‹ und ging auch nicht zu dem Platz, der damals noch ›Kikar Malchei Jisrael‹ hieß.«

An die Kerzen erinnert sich Mirjam noch lebhaft:

»Auf dem ›Kikar Malchei Jisrael‹ brannten in den kommenden Wochen Tausende von Lichtern und immer wieder trafen hier junge Menschen zusammen, um gemeinsam zu trauern. Überall war der Slogan ›Schalom, Chawer‹ (hebr.: ›Leb wohl, mein Freund‹) zu lesen und ununterbrochen das Lied von Aviv Geffen zu hören.«

Aviv Geffen: »Liwkot Lecha« (hebr.: »Um dich zu trauern«), live eine Woche nach dem Anschlag auf Rabin

Der tödliche Anschlag auf Rabin galt nicht nur dem charismatischen Politiker, sondern auch der Vision einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zwanzig Jahre nach dem Attentat richtet der New Israel Fund (NIF) nun bei uns im Museum eine Podiumsdiskussion über Rabins Erbe und die Rolle der Zivilgesellschaft in der Demokratie aus (mehr Informationen in unserem Veranstaltungskalender). Dabei wird sicher auch die eine oder andere Erinnerung an den 4. November 1995 zur Sprache kommen.

Die Erinnerung von Yaniv Feller und Mirjam Wenzel sammelte Mirjam Bitter ein, die sich über weitere Erinnerungen in den Kommentaren freut.

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