Veröffentlicht von am 4. Juni 2014 0 Kommentare

Wir üben uns im Erzählen

Vorbereitungen auf das pädagogische Programm zur Ausstellung »Die Erschaffung der Welt«

Darstellung eines Vogels, der einen Weinbecher hält

Detail aus einer Megilla (Ester-Rolle), 1750–1800, Elsass.
© Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama.

Im pädagogischen Begleitprogramm zu der Wechselausstellung »Die Erschaffung der Welt – Illustrierte Handschriften aus der Braginsky Collection« bieten wir den Workshop »Die Schlange aber war listiger…« an, in dem es um das Erzählen und Tradieren geht. Da die wenigsten Schülerinnen und Schüler, die an dem Workshop teilnehmen, die hebräische Schrift lesen können, wenden wir uns besonders den Illustrationen zu. Neben Darstellungen von David mit der Harfe oder von Adam und Eva, die sich in einigen Handschriften finden, stehen besonders die Illustrationen der Megillot, der Ester-Rollen, im Mittelpunkt dieses Programms. Sechs Megillot sind in der Ausstellung in ganzer Länge ausgerollt zu sehen.
Bevor wir mit den Teilnehmern in die Ausstellung gehen, erzählt ein Guide beispielsweise die Ester-Geschichte. Das Zuhören steht dabei im Vordergrund. Eigene Bilder entstehen vor dem inneren Auge. Danach geht die Gruppe in die Ausstellung und untersucht die Ester-Rollen mit Lupen, so dass sie jetzt ihnen bereits bekannte Szenen der Erzählung entdecken.

Zur Vorbereitung auf diese Workshops haben wir eine Erzähl-Expertin eingeladen. Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums trafen Prof. Dr. Kristin Wardetzky, die das Fachgebiet des Erzähltheaters an der Theaterpädagogik der Universität der Künste ins Leben gerufen hat und erste Vorsitzende des Vereins Erzählkunst e.V. ist, um sich unter ihrer Anleitung im Erzählen zu üben:

Unser Workshop mit Frau Wardetzky dauerte zwei Tage und hat uns alle begeistert: Wir haben nicht nur erzählt, sondern uns gegenseitig auch viel zugehört und uns immer wieder bewegt. Wir assoziierten einzelne Wörter, um uns selbst darüber klar zu werden, welche Möglichkeiten ein Erzählender hat. So entstanden Wortassoziationen wie Ester – Retterin – Mut – Zivilcourage, oder Ester – Asche – Fasten – Ramadan. Wir veränderten das Tempo, die Lautstärke und unsere eigene Haltung beim Erzählen, so dass eine kleine Geschichte doch sehr unterschiedliche Aussagen machen konnte. Probieren Sie es aus: »Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne. Diese Söhne sagten: ›Ach Vater, erzähl uns bitte eine Geschichte!‹ Da sagte der Vater: ›Es war einmal ein Mann …‹«
Frau Wardetzky ließ uns eigene Geschichten kreieren, teils anhand von Gegenständen, teils durch die Kombination eigener Erlebnisse. Hier entstand z.B. die Geschichte über eine israelische Touristin, die in der Sächsischen Schweiz auf ein kleines Schwein stieß, das gerade der Massentierhaltung entflohen war. Die junge Frau gründete eine Schweinezucht und eröffnete ein vegetarisches Restaurant auf dem Pfaffenstein.

Hebräische Schrift ist so angeordnet, dass das Bild eines muskulösen Mannes mit einer Kugel auf dem Kopf entsteht

Riese Samson in Mikroschrift, Sefirat ha-Omer (Omer-Zählung) und andere Gebete, 1795, Abschrift und Illustrationen von Baruch ben Schemaria, Amsterdam.
© Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama

Dann kam die große Aufgabe, Geschichten aus der Bibel nachzuerzählen. Zur Vorbereitung bastelten wir kleine Büchlein mit Texten, die lediglich zur Gedankenstütze dienen durften (Wir sollten ja die Zuhörer anschauen!) und vor allem Piktogramme für den roten Faden enthielten. Ich erzählte, wie Delila mit Jammern und Zetern Samson das Geheimnis seiner Kraft und Stärke entlockte. Dabei musste ich feststellen, dass ich wohl noch etwas Übung brauche, damit meine kleinen Zeichnungen demnächst tatsächlich als Gedächtnisstütze dienen können.

Bevor wir uns schließlich an das Erzählen der Ester-Geschichte wagten, diskutierten wir über die Themen und Motive der Geschichte und über die einzelnen Charaktere. Wie wenig Macht eine Königin im Perserreich fünf Jahrhunderte v. u. Z. hatte, zeigt die Scheidung des Achaschwerosch von Waschti, nachdem sie sich geweigert hatte, vor den Gästen des Königs zur Schau gestellt zu werden. Inwieweit handelte Waschti nach emanzipatorischen Überzeugungen? Ester bangt davor, den König, ihren Ehemann, auf den Erlass seines Wesirs zur Vernichtung der Juden anzusprechen, weil es ihr nicht erlaubt ist, vor den König zu treten. 30 Tage lang hat sie ihren Ehemann nicht gesehen, weil er sie nicht zu sich ruft. Liebt er sie überhaupt?
Wie kann man den König Achaschwerosch beschreiben? Verschwenderisch, sexsüchtig, ein Trunkenbold? Abhängig von seinen Beratern?

Nachdem wir alle einen Teil der Ester-Geschichte erzählt hatten, wurde deutlich: Jede und jeder von uns sieht unterschiedliche Schwerpunkte und Nuancen, jeder Erzählstil ist anders. Aber eines ist sicher: Erzählen ist großartig – und zuhören erst!
Ich hoffe, dass die Schülerinnen und Schüler, die unseren Erzählungen biblischer Geschichten bis Anfang August lauschen dürfen, diese Ansicht teilen.

Diana Dressel, Bildung

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