Faszination Familiengeschichte

Ein Blick in die Fotosammlung der Familie Radzewski

Wir alle haben eine Familie – ob Vater, Mutter, Kinder, Enkel, Großeltern, Tanten und Onkel oder auch nur Verwandte, die man flüchtig von Familienfeiern oder Fotos kennt. »Der Onkel, der im Ausland lebte, der mit der Tochter und den Enkeln – erinnerst du dich denn nicht mehr?« Das haben wir alle wohl schon mal gehört.

Schwarz-weiß Fotografie: Eine Frau im Kleid und ein siebenjähriges Mädchen stehen an einem Gittertor

Die Stifterin Vera de Jong mit ihrer Mutter Meta Krotoschiner vor dem Eingang ihres Hauses in Chile nach der Emigration, Santiago de Chile, 1952
© Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Doch was passiert, wenn niemand da ist, der einem alle diese Geschichten immer wieder erzählt? Da bleibt nur ein Foto dieser Menschen – falls man Glück hat –, manchmal eine Postkarte, die jedoch schweigt. So geht es Menschen nicht nur im privaten Rahmen. Auch als Museumsmitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen wir Tag für Tag vor der neuen Herausforderung, insbesondere wenn wir von Stiftern eine Sammlung mit ihren Familienfotografien erhalten haben, die wir inventarisieren. Bei jedem Bild fragen wir uns: Wo war das, wer sind diese Menschen, sind sie nur Freunde oder nahe Verwandte? Was für eine Geschichte steckt hinter diesem Bild?

Zum Glück sind wir nicht alleine – denn die Stifterinnen und Stifter schenken uns meist nicht nur ihre Sammlung, sie erzählen und vertrauen uns ebenfalls ihre Erinnerungen an. So war es auch bei der Familiensammlung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski. Vor einem Jahr übergab sie etwa 200 Fotografien den Mitarbeiterinnen der Fotografischen Sammlung unseres Museums (mehr Informationen zur Fotografischen Sammlung auf unserer Website). Meine Aufgabe als wissenschaftliche Volontärin war es nun, diese Bilder zu inventarisieren und ihre Geschichte zu recherchieren. Ich war sofort vom Charme der Bilder bezaubert und während der Recherche erschloss sich mir zudem ihr historischer Wert, denn anhand der Fotografien lässt sich die Geschichte der Familie über mehr als einhundert Jahre nachvollziehen.

Schwarz-weiß Fotografie eines Mannes in Gehrock und Stiefeln, der an einem Tisch sitzt

Salomon Max Radzewski. Residenz Atelier in Potsdam 1880
© Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Die älteste Fotografie dieser Familiensammlung stammt aus dem Jahre 1880 und zeigt einen Mann, der voller Stolz in einem Potsdamer Fotoatelier posiert. Es ist Salomon Max Radzewski, ein gebürtiger Russe und Veras Urgroßvater. Im 19. Jahrhundert floh er nach Ostpreußen, um dem Militärdienst zu entgehen. Dort traf er seine spätere Frau, Bertha Levin, mit der er drei Söhne hatte: Willy, Oskar und David, den Großvater unserer Stifterin. Willy fiel als Soldat der Preußischen Armee im Ersten Weltkrieg.

Meine Recherche wird zum Puzzle und die Informationen werden immer dichter, Schritt für Schritt. Die Brüder Oskar und David Radzewski, die auf dem Bild schicke Schnäuzer tragen, blieben unzertrennlich. Dies bezeugen die zahlreichen gemeinsamen Aufnahmen, hier mit vier eleganten Damen auf einem Bild. Leider ließ sich nicht ermitteln, wo diese Fotografie entstand und wer ihre Begleiterinnen waren – ein paar Fragen bleiben häufig offen, weil auch unsere Stifter natürlich nicht alle Details kennen können.

Schwarz-weiß Fotografie: Zwei Männer im Anzug und mit Hut und vier Frauen in hellen Kleidern stehen in einem Garten vor einem Haus

Die Brüder Oskar und David Radzewski mit vier elegant gekleideten Damen, um 1900 in Deutschland
© Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Auf einem weiteren Bild sehen wir David Radzewski etwa 15 Jahre später: Er ist nun verheiratet mit Frieda Neustadt und hat zwei Kinder, die Zwillinge Berndt und Meta. Meta, die Mutter unserer Stifterin Vera, emigrierte 1938 mit ihren Eltern auf dem Schiff »Patria« nach Chile. In Santiago de Chile lernte sie ihren späteren Ehemann und Veras Vater Walter Krotoschiner kennen.

Berndt flüchtete nach Palästina und nahm in seiner neuen Heimat den jüdischen Namen Benjamin an. Veras Großvater David Radzewski und ihr Vater Walter Krotoschiner verstarben beide in Santiago de Chile. So emigrierte Vera im Jahr 1967 mit ihrer Mutter Meta in die USA. Vor der Einreise in die USA besuchten die beiden allerdings noch Großmutter Frieda in Europa, die in der Zwischenzeit wieder nach Frankfurt am Main zurückgekehrt war. Bei diesem Besuch lernte Vera ihren jetzigen Ehemann Kurt de Jong kennen und zog schließlich der Liebe wegen ebenfalls nach Frankfurt am Main. Auch ihre Mutter Meta kam später dorthin nach.

Schwarz-weiß Fotografie: Links sitzt eine Frau in dunklem Kleid, rechts ein Mann im Anzug. Zwischen ihnen sitzen auf einem Tisch zwei Kleidkinder in hellen Kleidern.

David und Frieda Radzewski mit ihren Zwillingen Meta und Berndt, 1916 in Wriezen an der Oder
© Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Die Übergabe der Familiensammlung durch die Stifterinnen und das Erfragen und Recherchieren der Geschichte sind nur ein erster Schritt auf einem langen, aber spannenden, manchmal auch mühsamen Weg: Wir messen die Fotografien aus, prüfen den Zustand, beschreiben den Inhalt und dokumentieren sie samt Reproduktion in unserer hauseigenen Museumsdatenbank.

Wie wichtig diese Angaben sind, weiß ich durch meine kuratorische Arbeit in der Dauerausstellung (mehr Informationen zur Dauerausstellung auf unserer Website). Denn eine falsche Maßangabe in der Datenbank kann zu unnötigen Pannen bei der Ausstellungarbeit führen: So kann es passieren, dass ein Objekt schließlich nicht in die Vitrine passt. Die saubere Inventarisierung, eine umfassende Recherche zur Familiengeschichte und zum historischen Kontext und natürlich eine für alle Kolleginnen und Kollegen nachvollziehbare Dokumentation der Rechercheergebnisse sind für unsere Arbeit mit den Objekten zentral.

Alle Menschen haben eine Familie und die dazugehörigen Geschichten. Im Jüdischen Museum Berlin bilden die zahlreichen Familiensammlungen mit Fotografien, Briefen und Dokumenten sowie Objekten aller Art das Herzstück der Sammlung. Mit ihnen können wir deutsch-jüdische Familiengeschichten über Jahrzehnte, manchmal sogar über einen noch  längeren Zeitraum erforschen und ausstellen und damit auch unseren Besucherinnen und Besuchern zugänglich machen.

Julia Kouzmenko wünscht sich, dass der Blogbeitrag die Leserinnen und Leser dazu ermutigt, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen, und freut sich, wenn der eine oder die andere Faszinierendes aus seiner oder ihrer  Familiengeschichte im Kommentarfeld mit uns teilt.

In Erinnerung an Meta Krotoschiner, geb. Radzewski. Sie verstarb am 18. Oktober 2015 im Alter von 99 Jahren in Frankfurt am Main.

Kommentiert von Silvia Selowsky Hirschler am 8. Dezember 2015, 20:11 Uhr

Estoy sentada acá en Santiago de Chile y al lado de Vera, la protagonista de esta historia tan interesante. Cuando estuve en ese museo este año, a fines de octubre 2015, sentí parecido: que lo que nos traen esos rostros, aunque no sean propiamente todos parientes nuestros, es la historial familiar de cada uno: sus caras curtidas, sus callosidades, las ropas que usaban, el mobiliario, y todo el ambiente en general. Si bien, fue triste fue enriquecedora esta visita pues me empapé de la Europa de distintas épocas….en especial de Alemania.
Muy positivo todo el montaje de las diversas exposiciones!!!!! Muy agradecida de las múltiples experiencias que uno vive en este Museo!!!!

Kommentiert von Julia Kouzmenko am 15. Dezember 2015, 17:08 Uhr

Liebe Silvia,

haben Sie herzlichen Dank für Ihren Kommentar aus Santiago de Chile. Wie spannend, dass Sie gerade neben Vera, unserer Stifterin und Protagonistin dieser Geschichte, sitzen – ich nehme an, dass Sie beide alte Freundinnen sind! Freundschaft ist etwas Wunderbares!

Die Familiengeschichte von Vera de Jong ist in der Tat eine faszinierende. Die tollen Bilder nehmen uns auf eine Zeitreise mit, die uns – wenn auch nur im Ansatz – das Vergangene erleben, nachvollziehen und verstehen lässt.

Wir freuen uns, dass Ihnen unsere Dauerausstellung „Zwei Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte“, die Sie bei Ihrer Deutschlandreise vor einigen Monaten besuchen konnten, auch so gut gefallen hat. Wir sind sehr bemüht, alle unsere Ausstellungen so besucherfreundlich wie möglich zu gestalten. Es sind nicht zuletzt die zahlreichen Familienkonvolute – wie auch das von Vera de Jong – die uns die Geschichte rekonstruieren und erzählen lassen. Wie sie schon richtig sagen, erst die Objekte und Bilder schaffen die Atmosphäre, die den Besucher manchmal staunen und manchmal eben auch traurig werden lässt.

Mit besten Grüßen aus Berlin und alles Gute wünscht Ihnen
Julia Kouzmenko, Dauerausstellung und Fotografische Sammlung.

——-

Estimada Silvia,

muchas gracias por su comentario. ¡Qué interesante que esté sentada al lado de Vera! Supongo que son amigas. ¡Amistad es una cosa maravillosa!

La historia familiar de Vera de Jong es realmente fascinante. Las fotos nos llevan a un viaje por el tiempo, que nos deja vivir, comprender y entender el pasado — por lo menos un poco.

Nos alegramos que le guste nuestra exposición permanente „Dos milenios de historia alemana judía.“ Intentamos montar exposiciones más agradables para los visitantes posibles. Son también los legados de familias — por ejemplo el de Vera de Jong que nos dejan reconstruir y narrar esta historia. Como dice usted, sólo los objetos y las fotos crean un ambiente que puede asombrar a los visitantes y a veces también entristecerlos.

Saludos cordiales desde Berlin,
Julia Kouzmenko, exposición permanente y colección fotográfica

Pingbacks und Trackbacks

Einen Kommentar hinterlassen