Veröffentlicht von am 2. Oktober 2015 1 Kommentar

Flucht damals und heute

Eine Netzlese zum Tag des Flüchtlings

Der Holzschnitt stellt fünf Menschen mit Gepäck auf einem Schiff dar.

»Flüchtlinge«, Farbholzschnitt von Jakob Steinhardt, 1946, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie. Dieses und weitere Objekte zum Thema finden Sie in der Online-Suche in unseren Sammlungen

Unter dem Motto »Refugees Welcome!« findet heute, am 2. Oktober 2015, im Rahmen der Interkulturellen Woche der diesjährige Tag des Flüchtlings statt. Wir haben diesen Tag zum Anlass genommen, unsere eigene und fremde Websites und Blogs zum Thema Flucht zu durchforsten. Denn als Mitarbeiterinnen eines jüdischen Museums gehören Fluchtgeschichten für uns und viele unserer Kolleg*innen zum ›Alltagsgeschäft‹: Praktisch alle Familiensammlungen, die unserem Museum geschenkt werden, erzählen Geschichten von Verfolgung und Flucht und machen damit – jenseits von bloßen Zahlenangaben – individuelle Schicksale deutlich. Briefe, Reisedokumente, Fotos und persönliche Erinnerungsstücke berichten von der verzweifelten Suche nach einem Auswanderungsland, gescheiterten und geglückten Emigrationen, dem oftmals schwierigen Leben in einem fremden Land und der Suche nach Familienangehörigen, Freunden und ehemaligen Nachbarn, die über die ganze Welt verstreut sind. Diese Geschichten erzählen wir in unserer Dauerausstellung und sie waren und sind Thema verschiedener Sonderausstellungen. Im Moment können Sie in unserer aktuellen Kabinettausstellung »Im fremden Land« zum Beispiel Publikationen sehen, die in jüdischen Displaced Persons Camps entstanden sind. Dort warteten Jüdinnen und Juden auf eine Ausreise nach Palästina bzw. Israel, in die USA und andere Länder, wo sie nach der Schoa auf einen Neuanfang hofften.

Wir machen Geschichten von Flucht und Vertreibung aber auch jenseits von Ausstellungen online sichtbar, etwa anhand ausgewählter Objekte:

Ledertäschchen mit Schlüsseln

Schlüssel des Emigrationsgepäcks der Familie Sommerfeld, vor 1939, Leder, Metall, Schenkung von George und Peter Summerfield. Mehr zum Objekt auf unserer Website
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Diese 31 Schlüssel sind beispielsweise alles, was vom Auswanderungsgepäck der Familie Sommerfeld 1939 übrig blieb. Von einer gescheiterten Emigration berichtet dagegen ein Ledermäppchen von Frieda Neuber mit Briefen aus den Jahren 1939–1942. Zeugnisse aus unserem Archiv, die von der Entrechtung und Verdrängung jüdischer Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ab 1933 erzählen, haben wir in unserem Online-Projekt »1933. Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums« zugänglich gemacht. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Herbert Schwalbe nachzulesen, der im Oktober 1933 mit dem Ziel Persien emigrierte. Dort hatte er die Erlaubnis erhalten, sich wieder als Zahnarzt niederzulassen. Sein Reisepass illustriert eindrucksvoll eine Odyssee, die ein paar Jahre später in den USA endete, wohin Herbert Schwalbe schließlich seine Familie nachholen durfte. Unter dem heutigen Datum, dem 2. Oktober, erfahren Sie am Beispiel von Heinz – später Henri – Aram, dass auch ein Name eine Fluchtgeschichte erzählen kann.

Den Umgang mit solchen Dokumenten vermitteln wir in unseren Archivworkshops mit Zeitzeugen. Geschichten von den sogenannten Kindertransporten 1938/39 können Sie auch hier im Blog und auf unserer Website nachlesen.

Von der Flucht aus Ägypten bis zur Flucht vor den Nationalsozialisten ist das Thema des heutigen Tages also in der jüdischen Geschichte präsent. Doch nicht allein mit Blick auf die jüdische Geschichte interessieren uns Flucht und die Bedingungen der Aufnahme in einer neuen Umgebung. Unser JMB Journal beschäftigte sich in seiner zweiten Ausgabe mit aktuellen Fragen zu Migration und Integration. Im Rahmen der Akademieprogramme zu Migration und Diversität finden zudem regelmäßig Veranstaltungen statt, die danach fragen, wie unsere Mehrheitsgesellschaft sich langfristig wandeln muss, damit ein Zusammenleben in Vielfalt gelingen kann. Über die akute Hilfe für gerade angekommene Flüchtlinge oder die vorübergehende Schutzgewährung etwa im Rahmen eines »Kiddusch-Asyls« (vgl. unseren Blogbeitrag dazu) hinaus ist solch politischer Wandel notwendige Voraussetzung für eine momentan vielbeschworene ›Willkommenskultur‹ (die man durchaus kritisch hinterfragen sollte, wie es ein Beitrag des Blogs »Elalem« vorführt).

Aufgeschlagener Reisepass mit Foto und Stempel

Reisepass für Herbert Schwalbe, Berlin, 3. Juni 1933, Seite 2 und 3 mit Passfoto und Personenbeschreibung.
Schenkung von Stephanie Wells.
Mehr dazu in unserem Online-Projekt 1933

Zusammenleben in Vielfalt war auch Thema unserer Buchwoche zu Kinder- und Jugendliteratur. In unserem Blog haben wir drei ausgewählte Bücher vorgestellt, die sich mit dem Thema Flucht beschäftigen und die wir ausdrücklich auch für Erwachsene empfehlen können: Janne Tellers Krieg. Stell dir vor, er wäre hier, Anne-Laure Bondouxʼ Die Zeit der Wunder und Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert. Weitere Lesetipps finden Sie in der von der Bildungsabteilung zusammengestellten Broschüre »VielSeitig« (auf unserer Website als pdf-Datei abrufbar).

Fluchtgründe und -umstände für Jüdinnen und Juden damals und weltweit Flüchtende heute lassen sich keineswegs einfach gleichsetzen. Doch mit historischem Wissen um frühere Fluchtschicksale und die Konsequenzen fehlender Zufluchtsorte lässt sich die aktuelle Diskussion differenzierter führen.

»Häufig überschneiden sich die Gründe, dies ist gerade an der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland gut zu beobachten, denn die antisemitische Verfolgung war oft gepaart mit wirtschaftlichem Abstieg: durch Berufsverbote, sog. ›Arisierungsmaßnahmen‹, Enteignungen, Fluchtsteuer und Maßnahmen, die es erschwerten oder sogar verhinderten, dass bestehendes Vermögen ins Ausland transferiert wurde. […] Derzeit fliehen viele Menschen nach Europa, um ihr Leben zu retten. Sie fliehen vor Bürgerkriegen, Gewalt seitens des Staates oder terroristischer Gruppen, Hunger, Armut und völliger Perspektivlosigkeit. Flucht und Zwangsmigration sind keine Reisen, sie entstehen aus existenzieller Not und sind selbst bedrohlich. Mit der Flucht verlieren die Fliehenden alles, was sie je besessen haben, und auf der Flucht riskieren sie ihr Leben.«,

schreibt die Historikerin Birte Förster auf gefluechtet.de. Dieses Online-Projekt wurde von Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen ins Leben gerufen, um »aus fachlicher Perspektive [zu] erklären, wie Flucht entsteht und entstand, wie Menschen flüchteten und fliehen, wie Aufnahmeländer mit ihnen umgingen und umgehen.« Dort finden sich die unterschiedlichsten Biografien, z.B. von Flüchtlingen aus der DDR oder von Roberto Saviano, der sich im eigenen Land vor der Mafia versteckt. Auch jüdische Geschichten werden thematisiert wie die bereits erwähnten Kindertransporte oder die Geschichte von Felice Schragenheim, die vielen aus dem Film Aimee und Jaguar bekannt ist und von der wir einige Objekte in unseren Online-Sammlungen haben. Neben den Rubriken »Biografien«, »Ursachen«, »Aufnahme« und »Verflechtungen« gibt gefluechet.de unter der Überschrift »Was tun?« auch Hinweise auf konkrete Möglichkeiten, Geflüchtete zu unterstützen.

Aufgeschlagenes Passdokument mit handschriftlichen Eintragungen und Stempeln

Reisepass für Herbert Schwalbe, Berlin, 3. Juni 1933, Seite 6 und 7 mit dem Sichtvermerk zur einmaligen Ausreise über die Grenzübergangsstelle Bentschen vom 2. Oktober 1933 und dem Sperrvermerk der Devisenstelle vom 8. Oktober 1933.
Schenkung von Stephanie Wells.

Private Museumsblogs sowie Blogger*innen der »deutsch-jüdischen Bloggosphäre« (so Juliane Grossmann in einem Vortrag, nachzuhören auf irgendwiejuedisch.com) haben sich ebenfalls zur aktuellen Situation der Geflüchteten zu Wort gemeldet. Die Bloggerin von »MuseumsGlück« hat Anfang September in einem sehr persönlichen Beitrag erklärt, warum sie in ihrem Blog plötzlich politisch wird und die Aktion #BloggerFuerFluechtlinge unterstützt. Darin fordert sie auch die deutschen Kulturinstitutionen auf, ihrem Bildungsauftrag in diesem Bereich nachzukommen. Die »irgendwie jüdische« Bloggerin Juliane Grossmann beteiligt sich ebenfalls an der Aktion #BloggerFuerFluechtlinge und zieht in einem Blogbeitrag den Vergleich zwischen jüdischen Flüchtlingen damals und heutigen Flüchtlingen, hat sie doch das Gefühl: »Nun wiederholen sich die Bilder.« Chajm Guski zeigt in einem Beitrag auf seinem Blog »Chajms Sicht. Eine jüdische Sicht auf die Dinge« anhand eines Zitates des Philosophen Moses Maimonides, dass Geflüchtete aufzunehmen nicht nur ethisch richtig ist, sondern auch, dass die Hilfe nicht mit der Aufnahme endet, sondern erst beginnt. Von Hilfsaktionen für Flüchtlinge in Israel berichtet der deutschsprachige Blog »Fragmente aus dem Alltag einer bibliomanen Mutter in Israel«, und der früher in Deutschland tätige liberale Rabbiner Adrian Michael Schell ruft nun von Südafrika aus zur Hilfe für Geflüchtete auf.

In seinem »Aus- und Rückblick an der Schwelle zum neuen Jahr« hat sich kürzlich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland zu Flüchtlingen und Willkommenskultur geäußert:

»Wir, als jüdische Gemeinschaft, wissen aus der Geschichte nur zu gut, was es bedeutet, seine Heimat zu verlieren. Wir stehen an der Seite der Flüchtlinge – viele Gemeinden auch ganz konkret mit direkter Hilfe – und setzen uns dafür ein, dass sie in Deutschland eine sichere Zufluchtsstätte finden.« (Josef Schuster in einem Artikel in der Jüdischen Allgemeinen)

Empfehlungen, Projekte und Hilfsaktionen gibt es inzwischen zum Glück schon viele. Wir möchten an dieser Stelle nur die Handreichung zum Thema Willkommenskultur von Pro Asyl und der Amadeu-Antonio-Stiftung (auf deren Website als pdf abrufbar) nennen. Zum Tag des Flüchtlings wünschen wir uns ein baldiges Ende der »Schlecht-vorbereitet-sein-Krise« (so Anatol Stefanowitsch gegenüber Bayern 2) und eine langfristige Willkommenskultur für »Zufluchtsuchende« (ders. auf Sprachlog.de), damit Deutschland wirklich und nachhaltig eine sichere Zufluchtsstätte werden kann.

Mirjam Bitter und Mariette Franz, Redakteurinnen von Blogerim mit dem Privileg eines deutschen Passes, würden gerne mehr helfen und sammeln nun immerhin schon einmal für die Initiative »Kreuzberg hilft«.

Weiterlesen zum Thema Flucht auf unserer Website:

Kommentiert von Michelle van der Veen am 2. Oktober 2015, 08:11 Uhr

Danke für den schönen Beitrag und die ganzen Links zu weiteren Beiträgen.
Fühle mich sehr geehrt erwähnt zu werden! Nun muss ich erstmal ganz viel lesen!
Viele Grüße
Michelle van der Veen

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