Von inter­nationalen und anderen Gedenktagen

Seit 2005 gilt der Tag, an dem die sowjetische Armee nach erbitterten Kämpfen in das Konzentrations- und Vernichtungs­lager Auschwitz I und II vordrang, als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Obwohl ich mich jahrelang mit der Darstellung des Holocaust in Kunst, Literatur und Philosophie beschäftigt habe, berührt mich dieser Tag, der 27. Januar, irritierend wenig.

Schwarz-weiß Fotografie mit Kindern in Kleidung der Konzentrationslager in Auschwitz hinter einem Stacheldrahtzaun stehend

Überlebende Kinder im Stammlager Auschwitz, Still aus der filmischen Dokumentation von Alexander Voronzow. Im Bild zu sehen sind: Tomasz Szwarz; Alicja Gruenbaum; Solomon Rozalin; Gita Sztrauss; Wiera Sadler; Marta Wiess; Boro Eksztein; Josef Rozenwaser; Rafael Szlezinger; Gabriel Nejman; Gugiel Appelbaum; Mark Berkowitz; Pesa Balter; Rut Muszkies; Miriam Friedman; Miriam und Eva Mozes. Als Public Domain lizensiert von United States Holocaust Memorial Museum.

Der 27. Januar spielte in der Bundes­republik Deutschland jahrzehnte­lang keine besondere Rolle.

In den meisten europäischen Ländern finden offizielle Veranstaltungen statt, um kollektiv den Zivilisations­bruch in Erinnerung zu rufen und derer zu gedenken, die vor mehr siebzig Jahren systematisch ermordet wurden. So auch in Deutschland. Hier entschied man sich bereits 1996, den Tag der Befreiung von Auschwitz zum offiziellen Gedenktag zu erklären – nicht zuletzt auch, weil der 9. November durch den Fall der Mauer eine andere historische Symbolik gewonnen hatte. Im Unterschied zu diesem für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts so bedeutsamen Tag (November­revolution 1918, Hitler­putsch 1923, November­pogrome 1938 und Fall der Mauer 1989) spielte der 27. Januar in der Bundes­republik Deutschland jahrzehnte­lang keine besondere Rolle. Ob er deshalb für mich eher ein Kalender­datum geblieben ist?

Das Wort Auschwitz galt bereits vor Ende des Kalten Krieges als Chiffre für die systematische Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas. Dazu trugen weniger die Fotos bei, die sowjetische Soldaten nach der Befreiung von den im Lager verbliebenen Häftlingen machten, als vielmehr die Bilder der SS von den Deportierten an der Rampe von Auschwitz-Birkenau.

Literarische Zeugnisse wie etwa Primo Levis Ist das ein Mensch? (verfasst 1945–47, erschienen 1958) oder Jean Amérys autobiografische Essay­sammlung Jenseits von Schuld und Sühne (1966) sowie der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–65) festigten die zentrale Bedeutung des Konzentrations- und Vernichtungs­lagers im kollektiven Gedächtnis.

Im Unterschied zu abstrakten Begriffen wie „Holocaust“, „Schoa“ und „Genozid“ bezeichnet das Wort „Auschwitz“ im Sinne Adornos seither einen konkreten Ort und meint zugleich die nicht vorstellbare Vernichtung von Personen und die Auslöschung ihrer Namen. Es ist darum nur konsequent, den Tag, an dem dieser Ort aufhörte, ein Vernichtungs­lager zu sein, zum Tag des Gedenkens an jene zu wählen, die hier namenlos ermordet wurden.

Schwarz-weiß Fotografie mit zahlreichen Personen unterschiedlichen Alters, den Judenstern tragend und vor einem Zug-Waggon stehend

Foto aus dem so genannten „Auschwitz-Album“, das u.a. im Auschwitz-Prozess der Beweis­führung diente. Das Bild von der Ankunft ungarischer Jüdinnen und Juden auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau wurde Ende Mai oder Anfang Juni 1944 von einem SS-Mann (vermutlich Ernst Hofmann oder Bernhard Walter) gemacht; die abgebildeten Personen warten auf die sogenannte Selektion und sind bislang noch nicht identifiziert. CC-BY-SA 3.0 Bundesarchiv.

Das Wort Auschwitz galt bereits vor Ende des Kalten Krieges als Chiffre für die systematische Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas.

Die Erklärung des 27. Januars zum Internationalen Gedenktag durch die UN-General­versammlung aber geht nicht allein auf die zentrale Bedeutung zurück, die das Wort Auschwitz im Gedächtnis des Holocaust hat. Sie setzt auch eine Überlegung des Stockholmer International Forum on the Holocaust aus dem Jahr 2000 in die Tat um. Sie ist mithin ein Sinnbild für jene „Universalisierung des Holocaust“, von der Jan Eckel und Claudia Moisel zu Recht behaupten:

„Kein anderes historisches Ereignis hat in der Erinnerung eine auch nur ähnliche internationale Bedeutung erlangt.“

Am 27. Januar hat das kollektive Gedächtnis in Deutschland Teil an dieser globalisierten Gedenk­kultur. Im Land der Täter*innen und ihrer Nachfahr*innen gedenkt man der systematischen Ermordung nun an demselben Tag wie etwa in Tschechien oder Griechenland – Länder, die einst von Deutschen besetzt wurden.

Aufnahmen von der Ayalon-Autobahn in Tel Aviv während des Ertönens der Sirenen an Jom ha-Schoa, Video: Hanok Dakar

In Israel ist hingegen ein anderer Tag von zentraler Bedeutung: Seit 1959 wird die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden hier am 27. Tag des jüdischen Kalender­monats Nissan mit einem zwei Minuten währenden Stillstand des öffentlichen Lebens erinnert.

In Israel wird am 27. Nissan mit einem zwei Minuten währenden Stillstand des öffentlichen Lebens erinnert.

Bevor diese eindringliche Form kollektiven Gedenkens an Jom ha-Schoa entstand, gedachten praktizierende Jüdinnen und Juden insbesondere in den USA der Ermordung vor allem am 9. Tag des Monats Av, dem Fasten- und Feiertag Tischa be-Aw, an dem die Zerstörung des Zweiten Tempels erinnert wird. Rabbi Manuel Saltzman beschrieb den Zusammen­hang zwischen den beiden Ereignissen einst mit den Worten:

„Juden in aller Welt versammeln sich am Feiertag Tischa be-Aw in der Synagoge, um die Katastrophen zu erinnern, die über unser Volk in der Vergangen­heit herein­brachen und die ihren Höhepunkt in der Vernichtung von sechs Millionen Juden fanden. Wir werden die Verstorbenen niemals vergessen und beten, dass die gesamte Menschheit sie erinnern möge“ (im Orig. englisch, zitiert nach: Hasia R. Diner, We remember with reverence and love).

Gedenken kann nur, wer sich von einem Ereignis berühren lässt; erinnern, wer berührt ist. Dafür bedarf es eines Rahmens, der kollektiv sein kann, aber nicht muss. Das Kollektiv, das nun am 27. Januar des Holocaust und seiner Opfer gedenkt, ist weniger universal, als es der inter­nationale Rahmen suggeriert – der Tag, an dem mich Auschwitz aus der Fassung bringt, ist ein anderer.

Mirjam Wenzel, Medien

Abbildung eines Kupferstichs von J.G. Puschner aus dem Jahre 1734 mit Darstellung der Tempelzerstörung in Jerusalem, Innenansicht

Joh. Georg Puschner, Die Zerstöhrung Jerusalems (aus: Paul Christian Kirchner, Jüdisches Ceremoniel), Kupferstich auf Hadernblüten, Nürnberg: Peter Conrad Monath 1734; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GDR 78/7/0, Foto: Jens Ziehe, weitere Informationen zu diesem Objekt in unseren Online-Sammlungen

Zitierempfehlung:

Mirjam Wenzel (2015), Von inter­nationalen und anderen Gedenktagen.
URL: www.jmberlin.de/node/7703

Teilen, Newsletter, Feedback