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Der Ring des Propheten

Ein Märchen von Ilse Herlinger, illustriert von Florian Schmeling

Ilse Weber, geborene Herlinger (1903–1944), verfasste zahl­reiche jüdische Mär­chen. Unter dem Ein­druck des zu­nehmenden Anti­semitismus ver­folgte sie mit ihrer Arbeit das Ziel, Kindern jüdische Werte zu ver­mitteln und ihr Selbst­wert­gefühl zu stärken. 1928 erschien ihr Werk Jüdische Kinder­märchen, die historische Aus­gabe dieser Märchen­sammlung ist als Digitalisat im DFG-Viewer online ein­sehbar.

Fast ein Jahr­hundert später hat nun Florian Schmeling mit Der Ring des Propheten eines dieser Märchen liebe­voll illustriert, behut­sam ani­miert und mit dem von Ulrike Sonne­mann ein­gesprochenen Text unter­legt. Bleibt zu hoffen, dass Der Ring des Propheten auch heute noch ein inte­res­siertes Publikum finden möge!

Triggerwarnung: Das Mär­chen enthält Schilderungen ableistischer und anti­semitischer Erfahrungen.

Der Ring des Propheten von Ilse Herlinger (1903–1944), Illustration und Animation: Florian Schmeling, Audio: Ulrike Sonnemann, Leiterin der Bibliothek des JMB; Jüdisches Museum Berlin, 2022

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Der Ring des Propheten (Textversion)

von Ilse Herlinger

Es gab wohl in der ganzen Stadt keinen ärmeren Jungen als den kleinen Levi, den Sohn des Trödlers. Klein und verwachsen schlich er in dem Laden seines Vaters umher, denn kaum wagte er sich auf die Straße, da riefen die Kinder „buckliger Jud’“ hinter ihm her, und das schmerzte ihn tief. Nur wenn sein Vater sagte: „Sieh, Levi, wie schön die Sonne heute scheint. Willst du nicht ein bisschen vor die Tür gehen?“, dann ging er, dem Sprecher zuliebe, hinaus und ertrug tapfer den Hohn der Gassenjungen. Nie klagte er, denn er wollte dem Vater nicht weh tun und der hätte sich sicher gekränkt, dass man dem Knaben sein Gebrechen zum Spott machte.

Hinter dem Verkaufsladen war ein kleiner Verschlag, in welchem allerhand unverkäuflicher Trödel aufgestapelt lag. Neben einem kleinen Fenster, durch welches der Tag schüchtern herein lugte, stand ein alter Lehnsessel und hier verlebte Levi seine glücklichsten Stunden. Was er an Büchern finden konnte, schleppte er zusammen und las und las, bis die Augen schmerzten und aus dem Nebenzimmer des Vaters vorwurfsvolle Stimme ertönte: „Levi, hör’ endlich auf mit dem Lesen, du verdirbst dir noch die Augen!“ – Dann fand sich Levi zurück in die Wirklichkeit und nahm leise seufzend Abschied von den Wundern fremder Länder, in die ihn die Bücher geführt hatten. „Ach – könnte ich doch auch reisen!“ wünschte er manchmal, aber er wusste wohl, dass dies ein unerfüllbarer Wunsch war, denn der Vater war arm, sehr arm.

Einst betrat ein fremder Käufer den Laden. Der Vater war eben fort­gegangen und so fragte Levi nach den Wünschen des Fremden. Wer beschreibt seine Bestürzung, als dieser gerade jenes Buch verlangte, das Levi am meisten liebte. Langsamen Schrittes ging er in den Verschlag und holte das Buch; doch ehe er zurückging, drückte er es ans Herz und eine große Träne fiel auf das braune Leder des Einbandes. „Gibst du das Buch so ungern her, mein Kind?“ fragte da eine Stimme neben ihm und aufblickend sah er in die gütigen Augen des Fremden, der ihm unhörbar gefolgt war. – „Ja,“ flüsterte Levi, aber gleich fügte er hinzu: „aber nehmt es nur, Vater braucht das Geld!“ – Der Fremde blätterte in dem Buche. „Du möchtest wohl gern auch reisen?“ fragte er weiter, und als Levi nickte, nahm er einen unscheinbaren Ring vom Finger. „Nimm diesen Ring, Levi,“ sprach er, „er erfüllt dir drei Wünsche, welcher Art immer sie seien. Du kannst dir wünschen, zu reisen, du kannst Gold haben wie viel du willst, und ...“ „Oh,“ unterbrach ihn Levi mit leuchtenden Augen, „kann ich mir auch einen geraden Rücken wünschen?“ „Gewiss, auch das!“ lächelte der Fremde und als eben der Vater erschien, legte er den Finger auf den Mund, zum Zeichen, dass Levi schweigen solle, und ging, nachdem er bezahlt hatte, fort.

Levi trug den Ring an einem Bändchen um den Hals. Täglich nahm er ihn vor und der Gedanke, dass er sich nun seine liebsten Wünsche erfüllen konnte, gab ihm ein neues Glück. Oft war er schon im Begriff zu wünschen, dass der Buckel verschwinden möge, aber dann hielt er doch ein und dachte verschmitzt: „Wer weiß, vielleicht ist es besser, dass ich noch warte!“

Eines Tages reiste der Vater fort und kam mit einem kleinen, schwarz lockigen Mädchen wieder, das den Jungen zutraulich anlachte: „Das ist nun deine Schwester, Levi,“ sprach er, „die Tochter meines besten Freundes. Vater und Mutter sind tot, darum soll sie an mir einen neuen Vater und an dir einen treuen Bruder haben!“

Levi gewann die kleine Mirjam sehr lieb; er beschäftigte sich viel mit ihr und seine Zeit war so ausgefüllt, dass er fast des Ringes vergaß. Da geschah es einst, dass der Trödler zu einem reichen Kaufmann gerufen ward, um Bodenkram zu kaufen, und als er wieder heimging, vermisste der Kaufmann ein kostbares Schmuck­stück. Sofort fiel sein Verdacht auf den Trödler, und trotzdem dieser seine Unschuld beteuerte, wurde er ins Gefängnis geworfen, zur grenzenlosen Trauer der beiden verlassenen Kinder. Levi fasste schließlich Mut und ging zu dem Kaufmann, um ihn zu bitten, den Vater freizulassen. Er führte Mirjam an der Hand, und nach vielen Demütigungen wurden die Kinder in das Zimmer des Kaufmanns geführt. Doch alles Bitten war vergebens. Mit zornigen Worten wies er die weinenden Kinder ab und in seiner größten Verzweiflung entsann sich Levi des Ringes. „Gib, dass des Vaters Unschuld offenbar werde!“ flehte er, den Ring umklammernd. Und da stieß der Kaufmann einen Freudenruf aus: In einem Kästchen, das er gedankenlos geöffnet hatte, lag der verlorene Schmuck. Er ließ sogleich den Trödler holen, bat ihn um Verzeihung und entließ ihn reich beschenkt. Doch die erlittenen Aufregungen warfen den Trödler aufs Krankenlager, und noch war keine Woche vergangen, als der Arzt jede Hoffnung auf Genesung aufgab. Und wieder, in seiner größten Not, entsann sich Levi des Ringes, mit zitternden Händen holte er ihn hervor und bat um Genesung des Vaters. Wieder zeigte der Ring seine wunderbare Kraft: der Trödler genas.

„Ich habe nur noch einen einzigen Wunsch frei!“ fiel es Levi eines Tages ein. „Was soll ich mir nur wünschen? – Eine Reise in fremde Länder – oder einen geraden Rücken?“ – Er konnte sich nicht klar werden darüber und vergnügt steckte er den Ring wieder zurück. Oft ging er nun mit Mirjam spazieren. Höhnten die Gassenjungen ihn „buckliger Jud’“, dann bemühte er sich, den Spott zu überhören und dachte bei sich: Wenn ich nur wollte, könnte ich gesünder und schöner sein als sie! Warum er sich aber trotzdem den Buckel nicht fort wünschte, wusste er selbst nicht.

So kam das Freudenfest Simchat Thora heran und an diesem Tage waren die drei Menschen froh und glücklich. Als der Abend hereinbrach, gingen sie festlich angetan in den Tempel. Hier war es wunderschön. Alle Lichter brannten und spiegelten sich in den goldenen Zierraten, der Rabbiner und der Vorbeter hatten prächtige Gewänder an und eine fröhliche Kinderschar wartete aufgeregt und mit geröteten Wangen auf den Beginn der Feier. „Warum habe ich keine Fahne?“ fragte Mirjam plötzlich, als sie gewahr wurde, dass alle Kinder Fähnchen in den Händen hielten. Betroffen sah Levi sie an. Richtig! Sie hatte keine! – Er hatte nicht daran gedacht, Mirjam eine Fahne zu besorgen. Das tat ihm sehr leid, denn er kannte des Kindes Frömmigkeit und sah die sehnsüchtigen Blicke, die sie den andern Kindern zuwarf. Schon nahm der Vorbeter die schön geschmückten Thorarollen heraus, die Kinder stellten sich an. Stolz zeigte eines dem andern seine Fahne. Da waren blau-weiße Papierfähnchen mit schlichten Holzstäben, dann wieder andere aus Leinen, deren Stänglein zierlich gedrechselt war; manche trugen einen hübschen Knauf mit funkelnder Spitze. In den Bänken standen die Eltern und die großen Geschwister und blickten lächelnd auf die kleine Schar.

Levi sah verstohlen auf Mirjam. Die gab sich Mühe, ihre Betrübnis zu verbergen, dass sie das schöne Fest nicht würdig begehen durfte; ja, sie versuchte sogar ein tapferes Lächeln, als Levi sich ihr zuwandte. Aber als er ihr in die Augen sah, gewahrte er große Tränen darinnen. Da gewann sein gutes Herz die Oberhand. Nein, Mirjam durfte nicht traurig sein! Nicht, so lange es in seiner Macht stand, sie froh zu machen. Ohne zu überlegen griff er nach dem Ring. „O gib,“ flüsterte er innig, „dass Mirjam eine schöne Fahne bekommt!“

Und plötzlich streckte eine unsichtbare Hand dem kleinen Mädchen die herrlichste Fahne entgegen, die man sich denken kann: an einer goldenen Stange, glänzender, weißer Atlas, mit einem goldenen Zionsstern bestickt, mit langen Goldfransen verziert. Die Spitze bildete ein vergoldeter Knauf mit blitzenden Steinen. Entzückt sah Mirjam die Fahne an, hob sie hoch empor und alle andern Kinder wichen scheu zurück und ließen sie als Erste hinter der Thora gehen. Und als Levi die große Freude der Kleinen sah, da bereute er keinen Augenblick, nun auch seinen letzten Wunsch verwirkt zu haben.

In der Nacht hatte er einen herrlichen Traum: Der fremde Mann, der ihm den Ring gegeben hatte, trat an sein Lager und sprach zu ihm: „Ich bin Eliah, der Prophet. Drei Wünsche habe ich dir gestattet und alle drei hast du für andere verwendet. So will ich dich für deine Selbstlosigkeit und Güte belohnen im Namen des Allmächtigen, der an einem guten Kinde sein Wohlgefallen hat!“

Am nächsten Morgen erwachte Levi frisch und gut gelaunt. „Wie schön war es doch gestern Abend“, dachte er, „und was für ein merkwürdiger Traum war das heute Nacht.“ Er kleidete sich an und sprang vergnügt die Treppe hinunter. Es war ihm so leicht zu Mute wie noch nie.

Der Vater und Mirjam starrten ihn verwundert an, als er ins Zimmer trat. „Was seht ihr mich so an?“ fragte Levi betroffen. Mirjam brachte einen Spiegel und hielt ihn Levi vor. Der sah, immer erstaunter, hinein. „Der Buckel ist fort!“ schrie er dann auf und lachte und weinte vor Glück. So hatte der Prophet Eliah seine Güte belohnt!

Levi wurde ein schöner Jüngling. Er liebte die Bücher nach wie vor und wurde ein großer Gelehrter. Als er erwachsen war, nahm er Mirjam zur Frau und lebte glücklich und zufrieden. Und auch reisen konnte er, wie viel er wollte, denn Gottes Segen ergoss sich reich über ihn, so dass er sich jenen großen Wunsch seiner Kinderjahre erfüllen konnte.

Zitierempfehlung:

JMB (2022), Der Ring des Propheten. Ein Märchen von Ilse Herlinger, illustriert von Florian Schmeling.
URL: www.jmberlin.de/node/8645

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