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Als ein Trauschein nicht bloß ein Stück Papier war

Wie jüdische Erinnerungsstücke chinesische Geschichte bewahren

Dokument in chinesischer Schrift. Die Umrahmung der Schrift ist sehr aufwendig gestaltet mit vielen Farben und Symbolen aus der Natur.

Heirats­urkunde aus Schanghai in chine­sischer Schrift von Johannes Dombrowsky und Ilse Kussel (1923–1997) von 1946; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. DOK 97/15/0, Schenkung von Ayya Khema, Foto: Jens Ziehe

In einem anderen Essay teilte ich meine Gedanken zu einigen Objekten aus Schanghai in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin. Nun möchte ich Sie noch auf drei Heirats­urkunden aufmerksam machen, die mir nicht nur wegen ihrer eleganten Ausführung ins Auge sprangen – und weil sie nach über 70 Jahren so gut erhalten sind –, sondern auch, weil es mich erstaunte zu sehen, wie Elemente der chine­sischen Kultur in das Leben von Jüdinnen*Juden, die vor dem National­sozialismus geflohen waren, Einzug gehalten hatten; und das, obwohl sie in Schanghai weitgehend ihre eigenen kulturellen und pädago­gischen Aktivitäten aufrecht erhielten, mit Zeitungen, jüdischen Schulen, Konzerten, Sportveranstaltungen, Theater­aufführungen (z. B. Delila und Nathan der Weise) und Festen (z. B. eine nicht ganz nüchterne Purim-Feier).

Im heutigen China ist ein Trauschein ein Stück Papier, so groß wie ein Ausweis, mit einem schmucklosen Text, Schwarz auf Weiß. Da die Scheidungsrate einen historischen Höchststand erreicht hat und sich immer mehr Chines*innen gegen die Ehe entscheiden, hat dieses Papier derzeit wenig Bedeutung, wenn es nicht gerade für die Gütertrennung benötigt wird.

Dokument in chinesischer Schrift. Umrahmung aufwendig verziert.

Chinesische Heiratsurkunde für Irma Bielschowsky (1902–2000) und Albert Elias Less (1887–1952) von 1944; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2003/174/4, Schenkung von Gert und Brigitte Stroetzel

Der rasende Wandel der Gesellschaft und der Verfall der traditionellen Werte wecken nun in vielen jungen Menschen nostalgische Gefühle für die Jahre der Republik China. Nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie 1912 versuchte sich die neu gegründete chinesische Republik an die moderne Zivilisation anzupassen. In den folgenden Jahrzehnten versank das Land zwar in politischem Chaos, kulturell und intellektuell aber blühte es auf und erlebte eine Phase beispielloser Freiheit – vor allem im Vergleich zu den ersten 30 Jahren der kommunistischen Herrschaft ab 1949.

Die Heiratsurkunden aus Schanghai, die ich in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin fand, sind mit einer Mischung aus traditionellen und modernen Elementen verziert und sollten offenbar den Geschmack einer neuen Generation von Chines*innen treffen, die wachsende Freiheiten genoss und zumindest in den Städten seit dem frühen 20. Jahrhundert die Liebesheirat zu einer gängigen Praxis gemacht hatte. Diese Trauscheine sind gesellschaftliche Zeitzeugnisse. Besonders wertvoll werden sie dadurch, dass so wenige Objekte ihrer Art all die Kriege und Revolutionen der vergangenen 70 Jahre (speziell die »Große Proletarische Kulturrevolution«) überlebt haben.

Dokument in chinesischer Schrift. Die Umrahmung um das Dokument ist bunt und mit vielen dekorativen Figuren aus der Natur verziert.

Chine­sischer Heirats­vertrag für Meta Hirschel-Wollny (1922–2000) und Hans Egon Arnheim von 1946; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 1999/253/0, Schenkung von Meta Schiowitz, Foto: Jens Ziehe

Eins der Zertifikate ist auf 1944 datiert, die beiden anderen auf 1946. Aus den beiden Urkunden von 1946 erfahren wir, von wo die Hochzeitspaare kamen: im ersten Fall aus Wien und Berlin, im zweiten aus Breslau, Deutsch­land (das zu dieser Zeit allerdings bereits zu Polen gehörte), und wiederum Berlin. Diese Trauscheine zeigen eine Fülle chine­sischer Symbole: den chine­sischen Drachen (Macht und Glück), den chinesischen Phönix mit Pfingstrose (Harmonie und Wohlstand), die chine­sische Elster (günstiges Schicksal und Zufriedenheit), zwei Mandarin­enten (Eheglück und Treue), zwei Schmetter­linge (Streben nach Liebe und Freiheit, wie in der Legende von den Schmetter­lings­liebenden), die Lotosblüte (Vornehmheit und Reinheit), die Pfirsich­blüte (Liebes­glück und Lebens­freude) und noch andere. 

Der Segen auf beiden Urkunden ist in poetischer Sprache geschrieben und bezieht sich in Zitaten und An­spielungen auf Liebes­gedichte aus dem Buch der Lieder (ca. 600 v. u. Z.) und auf Verse aus der Zeit der Tang-Dynastie (ca. 7. bis 9. Jahr­hundert u. Z.).
Für heutige Chines*innen können diese Urkunden zur Erinnerung an die Bedeutung und traditionelle Wertschätzung von Ehe und Familie dienen.

Für Jüdinnen*Juden bezeugen die Trau­scheine – verbunden mit der Ent­scheidung, in Kriegs­zeiten die Ehe ein­zugehen (auf den Zweiten Weltkrieg folgte der chine­sische Bürger­krieg zwischen Nationalist*innen und Kommunist*innen) – die Fort­dauer der jüdischen Gemeinde im Exil und ihre Leiden­schaft für das Leben und die Liebe, selbst in den schwersten Zeiten. 

Als ich den Namen auf den Zertifikaten nachforschte, stieß ich auf eine traurige Geschichte. Hans Egon Arnheim aus Wien, genannt auf einem der Trau­scheine von 1946, war 1939 zusammen mit seiner damaligen, ebenfalls aus Wien stammenden Verlobten Henny Pia aus dem national­sozialistisch besetzten Österreich nach Schanghai geflohen. Doch als es Henny nicht gelang, ihre Mutter Ella Herzer-Königsberger davon zu überzeugen, ebenfalls nach Schanghai zu kommen, kehrte sie nach Wien zurück und verschwand spurlos (vgl. Karin Ploog: …Als die Noten laufen lernten…, Teil 2: Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945. Komponisten – Librettisten – Texter, S. 349).

Wegen der sprachlichen und kulturellen Barrieren hatten die meisten jüdischen Flüchtlinge keinen engen Kontakt zu den chinesischen Einwohner*innen und blieben weitgehend unter sich.
Allerdings fand ich bei meinen Recherchen zwei interessante Objekte, die nicht nur von kulturellen Wechsel­wirkungen zeugen, sondern belegen, wie jüdische Flüchtlinge und Chines*innen gemeinsam Familien gründeten. Das eine ist eine Hochzeits­karte mit dem chine­sischen Namen Nee Cheng, das andere ein chine­sischer Pass mit dem Foto eines europäisch aussehenden Menschen. 

Ich fand heraus, dass die Chinesin Nee Cheng gehörlos war und den ebenfalls gehörlosen Ghettobewohner David Ludwig Bloch heiratete, dem im November 1938 auf wundersame Weise die Flucht aus dem Konzentrationslager Dachau gelungen war. Beide Eheleute waren Kunstliebhaber*innen, und Herr Bloch hat die Hochzeitskarte vermutlich selbst gestaltet.

Reisepass-Dokument. Schwarze, chinesische Schrift auf gelbem Papier. Links ein Schwarz-Weiß Bild eines Mannes. Rechts ein roter Stempel.

Chine­sischer Reisepass von Robert Gold­schmidt (1904–1980), 1941–1953; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Liliane Ransom

Der Mann auf dem chinesischen Pass ist Robert Goldschmidt, der am 20. Mai 1940 von dem Chinesen Ho Hsien-Li adoptiert und dann unter dem Namen He Gaoxu/Ho Robert Goldschmidt chinesischer Staatsbürger wurde. Seinen Pass erhielt er im Januar 1941 in der chinesischen Kriegshauptstadt Chongqing, und später gelang es ihm, noch einige seiner Familienmitglieder nach China zu holen.

All die Geschichten hinter diesen Gegenständen sind jüdische Geschichten, doch es sind auch chinesische Geschichten, wenngleich sie in China noch niemand kennt. Nun habe ich vor, diese Geschichten, mit noch mehr Einzelheiten, meinen Landsleuten zu erzählen. Hoffentlich werden sie davon ebenso berührt sein, wie ich es bin.

Schwarz-Weiß Bild. Links ein älterer Mann in dunkler Kleidung. Rechts ein mittelalter Mann in einem Anzug. Beide schauen in die Kamera.

Robert Goldschmidt (1904–1980) und sein chine­sischer Adoptiv­vater Ho Hsien-Li (gest. 1944), ca. 1940–44; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2009/295/44, Schenkung von Liliane Ransom, Foto: Jens Ziehe

Wei Zhang, Praktikant Sammlung, fand es eine inspirierende und ergreifende Erfahrung zu sehen, wie Menschen verschiedener Ethnien, Lebenshintergründe und Kulturen aus der Leidenschaft und der Liebe zum Leben heraus zu einer Familie werden können.

Zitierempfehlung:

Wei Zhang (2017), Als ein Trauschein nicht bloß ein Stück Papier war . Wie jüdische Erinnerungsstücke chinesische Geschichte bewahren.
URL: www.jmberlin.de/node/10673

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