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Faszination Familiengeschichte

Ein Blick in die Fotosammlung der Familie Radzewski

Ein altes schwarz-weiß Familienbild. Zu sehen links eine Frau (die Mutter). In der Mitte zwei kleine Kinder. Rechts ein Mann (der Vater)

Frieda Radzewski mit Zwillingen und Ehemann, Wriezen a.O. ca. 1916; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/287/18, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Wir alle haben eine Familie – ob Vater, Mutter, Kinder, Enkel, Großeltern, Tanten und Onkel oder auch nur Verwandte, die man flüchtig von Familienfeiern oder Fotos kennt. „Der Onkel, der im Ausland lebte, der mit der Tochter und den Enkeln – erinnerst du dich denn nicht mehr?“ Das haben wir alle wohl schon mal gehört.

Doch was passiert, wenn niemand da ist, der einem alle diese Geschichten immer wieder erzählt? Da bleibt nur ein Foto dieser Menschen – falls man Glück hat –, manchmal eine Postkarte, die jedoch schweigt. So geht es Menschen nicht nur im privaten Rahmen. Auch als Museumsmitarbeiter*innen stehen wir Tag für Tag vor der neuen Herausforderung, insbesondere wenn wir von Stifter*innen eine Sammlung mit ihren Familienfotografien erhalten haben, die wir inventarisieren. Bei jedem Bild fragen wir uns: Wo war das, wer sind diese Menschen, sind sie nur Freund*innen oder nahe Verwandte? Was für eine Geschichte steckt hinter diesem Bild? 

Zum Glück sind wir nicht alleine – denn die Stifter*innen schenken uns meist nicht nur ihre Sammlung, sie erzählen und vertrauen uns ebenfalls ihre Erinnerungen an. So war es auch bei der Familiensammlung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski. Vor einem Jahr übergab sie etwa 200 Fotografien den Mitarbeiterinnen der Fotografischen Sammlung unseres Museums (mehr Informationen zur Fotografischen Sammlung auf unserer Website). Meine Aufgabe als wissenschaftliche Volontärin war es nun, diese Bilder zu inventarisieren und ihre Geschichte zu recherchieren. Ich war sofort vom Charme der Bilder bezaubert und während der Recherche erschloss sich mir zudem ihr historischer Wert, denn anhand der Fotografien lässt sich die Geschichte der Familie über mehr als einhundert Jahre nachvollziehen.

Schwarz-Weiß Bild. Ein Mann sitzt angelehnt an einen Tisch.

Porträt Salomon Max Radzewski, Potsdam 1880; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/287/1, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Die älteste Fotografie dieser Familiensammlung stammt aus dem Jahre 1880 und zeigt einen Mann, der voller Stolz in einem Potsdamer Fotoatelier posiert. Es ist Salomon Max Radzewski, ein gebürtiger Russe und Veras Urgroßvater. Im 19. Jahrhundert floh er nach Ostpreußen, um dem Militärdienst zu entgehen. Dort traf er seine spätere Frau, Bertha Levin, mit der er drei Söhne hatte: Willy, Oskar und David, den Großvater unserer Stifterin. Willy fiel als Soldat der Preußischen Armee im Ersten Weltkrieg. 

Meine Recherche wird zum Puzzle und die Informationen werden immer dichter, Schritt für Schritt. Die Brüder Oskar und David Radzewski, die auf dem Bild schicke Schnäuzer tragen, blieben unzertrennlich. Dies bezeugen die zahlreichen gemeinsamen Aufnahmen, hier mit vier eleganten Damen auf einem Bild. Leider ließ sich nicht ermitteln, wo diese Fotografie entstand und wer ihre Begleiterinnen waren – ein paar Fragen bleiben häufig offen, weil auch unsere Stifter natürlich nicht alle Details kennen können.

Schwarz-Weiß Bild. Zwei Männer in dunklen Anzügen stehen links. Rechts daneben stehen vier Frauen in hellen Kleidern.

Brüder Oskar und David Radzewski mit vier Frauen vor einem Anwesen, Bad Elster ca. 1900; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/287/50, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Auf einem weiteren Bild sehen wir David Radzewski etwa 15 Jahre später: Er ist nun verheiratet mit Frieda Neustadt und hat zwei Kinder, die Zwillinge Berndt und Meta. Meta, die Mutter unserer Stifterin Vera, emigrierte 1938 mit ihren Eltern auf dem Schiff „Patria“ nach Chile. In Santiago de Chile lernte sie ihren späteren Ehemann und Veras Vater Walter Krotoschiner kennen. 

Berndt flüchtete nach Palästina und nahm in seiner neuen Heimat den jüdischen Namen Benjamin an. Veras Großvater David Radzewski und ihr Vater Walter Krotoschiner verstarben beide in Santiago de Chile. So emigrierte Vera im Jahr 1967 mit ihrer Mutter Meta in die USA. Vor der Einreise in die USA besuchten die beiden allerdings noch Großmutter Frieda in Europa, die in der Zwischenzeit wieder nach Frankfurt am Main zurückgekehrt war. Bei diesem Besuch lernte Vera ihren jetzigen Ehemann Kurt de Jong kennen und zog schließlich der Liebe wegen ebenfalls nach Frankfurt am Main. Auch ihre Mutter Meta kam später dorthin nach.

Die Übergabe der Familiensammlung durch die Stifter*innen und das Erfragen und Recherchieren der Geschichte sind nur ein erster Schritt auf einem langen, aber spannenden, manchmal auch mühsamen Weg: Wir messen die Fotografien aus, prüfen den Zustand, beschreiben den Inhalt und dokumentieren sie samt Reproduktion in unserer hauseigenen Museumsdatenbank. 

Wie wichtig diese Angaben sind, weiß ich durch meine kuratorische Arbeit in der Dauerausstellung (mehr Informationen zur Dauerausstellung auf unserer Website). Denn eine falsche Maßangabe in der Datenbank kann zu unnötigen Pannen bei der Ausstellungarbeit führen: So kann es passieren, dass ein Objekt schließlich nicht in die Vitrine passt. Die saubere Inventarisierung, eine umfassende Recherche zur Familiengeschichte und zum historischen Kontext und natürlich eine für alle Kolleg*innen nachvollziehbare Dokumentation der Rechercheergebnisse sind für unsere Arbeit mit den Objekten zentral.

Alle Menschen haben eine Familie und die dazugehörigen Geschichten. Im Jüdischen Museum Berlin bilden die zahlreichen Familiensammlungen mit Fotografien, Briefen und Dokumenten sowie Objekten aller Art das Herzstück der Sammlung. Mit ihnen können wir deutsch-jüdische Familiengeschichten über Jahrzehnte, manchmal sogar über einen noch längeren Zeitraum erforschen und ausstellen und damit auch unseren Besucher*innen zugänglich machen. 

Julia Kouzmenko, Kuratorin, wünscht sich, dass dieser Artikel die Leser*innen dazu ermutigt, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen. 

In Erinnerung an Meta Krotoschiner, geb. Radzewski. Sie verstarb am 18. Oktober 2015 im Alter von 99 Jahren in Frankfurt am Main.

Schwarz-Weiß Bild. Eine Frau mittleren Alter und ein kleines Mädchen stehen neben einem Gittertor vor einem Hauseingang

Meta Krotoschiner mit Tochter Vera Krotoschiner vor einem Hauseinangang, Santiago de Chile 1952; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/287/199, Schenkung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski

Zitierempfehlung:

Julia Kouzmenko (2015), Faszination Familiengeschichte. Ein Blick in die Fotosammlung der Familie Radzewski.
URL: www.jmberlin.de/node/10729

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