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Erste Zeilen eines handschriftlichen Briefes

„... oder ist’s gar der Weltuntergang?“

David Fiks berichtet vom Novemberpogrom 1938 in Berlin

Jörg Waßmer

„Nun zu Deiner Bitte mein Sohn, Du verlangst von mir eine genaue Schilderung der November Pogrome?“, fragt David Fiks am 13. Mai 1939 in seinem Brief an seinen Sohn Max. „Was ist den da dran gross zu schildern? Was ist den da dran zu beschreiben? Judenpogrome waren schon immer gewesen mein Sohn.“

Der 45-Jährige kommt der Bitte seines Sohnes aber schließlich doch nach und beginnt zu erzählen. Und kaum fängt er damit an, platzt es aus ihm regelrecht heraus. Man bekommt den Eindruck, er schreibt sich etwas von der Seele. 22 eng beschriebene Seiten umfasst sein Brief, als er den Stift schließlich aus der Hand legt. Anschaulich schildert er darin die Ereignisse vom 9. November 1938 und in den darauffolgenden Tagen.

Der Brief

Der Brief ist zunächst etwas sperrig zu lesen. Schnell wird beim Lesen klar, dass Fiksʼ Muttersprache nicht Deutsch, sondern Jiddisch war. Geboren 1893 in Rafałowska, einem Dorf im damaligen Russland, war er als junger Mann nach Berlin gekommen, um sich hier dauerhaft niederzulassen. 1920 heiratete er die aus Warschau stammende Estera Kluger. Sie gründeten eine Familie und bekamen drei Söhne. Der Älteste, Max, an den sich der Brief richtet, wurde 1921 geboren. 1930 erhielt Familie Fiks die preußische und damit deutsche Staatsbürgerschaft. Bereits vier Jahre später wurde sie ihnen von den Nationalsozialisten wieder entzogen. Auf Grundlage des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen wurden sie im Dezember 1934 zu Staatenlosen gemacht.

Handschriftlicher Brief auf vergilbtem Papier mit eng beschriebenen Zeilen

Erste Seite des Briefes von David Fiks an seinen Sohn Max, Paris, 13. Mai 1939; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2004/7/0/1-11, Schenkung von Max Fiks

Sepiafarbenes Familienfoto: Ehepaar mit einem erwachsenen Sohn und einem Sohn im Kindesalter

David und Estera Fiks mit ihren beiden Söhnen Max (1.v. links) und Alfred (2.v. links), der dritte Sohn war als Kind verstorben, Berlin, ca. 1937; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. R-2004/6/0, Schenkung von Alfred I. Fiks. Weitere Informationen zu diesem Foto finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Liest man sich in den Brief ein, entfaltet er eine ungeheure Sogwirkung. Es ist ein außerordentliches Zeitdokument. Nur ein halbes Jahr nach den Ereignissen geschrieben, ist der Bericht relativ zeitnah verfasst. Da David Fiks ihn im Exil in Paris schrieb, wohin er geflüchtet war, und ihn in die USA schickte, wo sein Sohn Max lebte, musste er keine Postzensur deutscher Behörden fürchten. Man merkt es der direkten und unmittelbaren Sprache an, dass hier sehr offen berichtet wird.

„D. Fiks Kürschnermeister“

David Fiks war Kürschner von Beruf. Von 1907 bis 1911 hatte er in Warschau seine Lehre absolviert. Unterbrochen von seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg arbeitete er danach als Kürschnergeselle. „Als 22 Jährige gesunde, Lebenslustige und ehrliche Mentschen versuchten wir in Berlin die zweite Heimat zu finden, Unser Weg war grade nicht mit Rosen gestreut, Mühesellig ja Stufe bei Stufe schlugen wir unser Lebensweg ein.“ Am 7. Juli 1924 legte er in Berlin die Meisterprüfung mit dem Prädikat „recht gut“ ab und machte sich selbständig. Seinen ersten Laden betrieb er in der Sebastianstraße 7 in Berlin-Mitte. Zwei Fotos sind davon erhalten. Die – leider nur fragmentarische – Außenansicht zeigt einen Teil der Fassade des Hauses. Daran geschrieben steht in großen Buchstaben „Pelzmoden“ und darunter, kleiner, „D. Fiks Kürschnermeister“.

Schwarz-Weiß-Kopie einer Urkunde mit Schmuckrahmen

Meisterbrief von der Handwerkskammer zu Berlin für David Fiks, Berlin, 7. Juli 1924; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 052653

Schwarz-Weiß-Foto: Fassade eines Wohnhauses mit Werbung zwischen den Fenstern

Außenansicht des Kürschnergeschäfts von David Fiks in der Sebastianstraße 7, Berlin, ca. 1925-1930; mit freundlicher Genehmigung von Eliot Fiks

Auf der Innenaufnahme sind Einzelheiten nur schemenhaft zu erkennen, so verblichen ist die Fotografie. David Fiks steht in seiner Werkstatt, neben einem Pelz. Er trägt einen Arbeitskittel. Hinter ihm sind seine Frau und mehrere Angestellte zu erkennen, die an Nähmaschinen sitzen. „Established 1919 in Berlin“, ist darunter handschriftlich notiert.

Schwarz-Weiß-Foto: Mann im weißen Kittel, neben einem Pelz stehend, dahinter mehrere Personen, nur schemenhaft zu erkennen

David Fiks mit seiner Frau und Angestellten in seiner Kürschnerwerkstatt, Berlin, ca. 1925; mit freundlicher Genehmigung von Alfred I. Fiks und Erik Fiks

Name und Anschrift in einem gedruckten Adressbuch

Auszug auf dem Berliner Adressbuch von 1938 mit Eintrag zu „Fiks D Kürschner W 15 Uhlandstr 43 T.“

Später zog David Fiks in den noblen Westen und eröffnete in der Nähe des Ku’damms ein neues Geschäft. Im Berliner Adressbuch ist verzeichnet, wo er zum Zeitpunkt des Novemberpogroms 1938 wohnte und sich sein damaliges Pelzgeschäft befand: in der Uhlandstraße 43.

Ein geschichtsvergessener Ort

Als Mitarbeiter des Archivs im Jüdischen Museum Berlin mache ich mich auf Spurensuche und gehe zu den Orten, die David Fiks in seinem Brief erwähnt. Mein Weg führt mich zunächst nach Wilmersdorf. Das heutige Gebäude in der Uhlandstraße stammt aus der Nachkriegszeit. Im Erdgeschoss befindet sich auch heute ein Ladengeschäft, aber statt Pelze werden hier vor allem Wein, Bier und Spirituosen sowie Zeitungen verkauft. Der historische Ort ist heute ein geschichtsvergessener Ort, nichts erinnert an den Schrecken, der sich hier beim Novemberpogrom vor 80 Jahren ereignete.

Berliner Adressbücher

Einen Überblick über verschiedene Recherchemöglichkeiten in Berliner Adress-, Telefon- und Branchenbücher von 1707 bis 1991/1992 finden Sie auf der Website der Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
Website der Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Familienerinnerung

Fünf Jahrzehnte später geht der Enkelsohn von David Fiks, Eliot, durch die Uhlandstraße. Der junge Mann ist 1987 aus den USA nach West-Berlin gekommen, um nach Spuren seiner Familiengeschichte zu suchen. Die Ereignisse des Novemberpogroms versucht er sich vor Ort zu vergegenwärtigen. Mit seinem Fotoapparat hält er seine Eindrücke in einer Serie von schwarz-weiß-Fotos fest.

Der Zufall will es, dass er im Nachbarhaus Uhlandstraße 45 ein Pelzmodengeschäft entdeckt. Das hätte der Laden seines Großvaters sein können.

Schwarz-Weiß-Foto: Ladengeschäft mit Schaufenster und Werbung „Pelze“

Pelzmoden-Geschäft in der Uhlandstraße 45, Berlin, 1987; mit freundlicher Genehmigung von Eliot Fiks

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht eine Haustür offen. Der 31-Jährige betritt den Altbau und steigt die knarrende Treppe hinauf. Er gelangt bis zum Dachboden. Sein Großvater hatte sich in Todesangst auf einem solchen Speicher in der Nachbarschaft versteckt.

„An der letzten Tür schällte ich einige Sekunden lang es machte mir ein 9 Jähriges Mädchen auf, ich konnte nicht mehr Reden, und stürzte stumm in der Wohnung hinein, ihre Mutter eine besser gekleidete Arische Dame kommt vor und fragte mich was ich wünsche, ich antworte schluchzend Retten sie mich gnädige Frau, ich werde verfolgt. Wer sind sie denn? war ihre Frage, ich der F. kein Einbrecher, kein Mörder, kein Betrüger, kein Schuft, ich bin nur Jude, und Familien Fater, es geht hier um Leben und Todt, Verstecken sie mich, tuhen Sie mit mir was sie wollen, aus dieser Wohnung gehe ich nicht mehr hinaus.... Aber was fällt ihnen den ein? Mein Mann ist Partei Vorstands-Mitglied und Gau-Leiter, er muß bald hier ankommen er schüßt sie bestimt hier über den Auffen, und ich krieg auch dann meinen theil, wie ich wage in meiner Wohnung einen Juden zu verbörgen, es fiel mir ein, schlüßen sie mir bitte in Ihren Boden ein, und in einigen Stunden später wen’s dunkel wird, lassen sie mich wider hinaus, und sie wird damit einen Familien Fater und Mentsch retten, dass hat sie endlich getahn, und auf ein troken-boden unter einen Wäsche Korb blieb ich ca. 4 Stunden lang.“

Schwarz-Weiß-Foto: Blick durch ein Sprossenfenster auf die gegenüberliegenden Häuser

Blick durch ein Treppenhausfenster in der Uhlandstraße 156, Berlin, 1987; mit freundlicher Genehmigung von Eliot Fiks

„Als ich in der grössten bedrängung den Laden verliess sah mich der Porteur von 42 da ereinstürtzen, er hat’s gleich Mutti erzehlt, weil Mutti mit Frl Joppek mich auf der Strasse gesucht hatten und dachten die Leuten hätten mir irgend wo verschlept oder gar getötet [...]: Mutti blieb dann vor Haus Nr 42 stehn, und als die Bestie in Mentschen Gestallt sahen dass ich geflitzt hatte, so haben die unternommen keine Mühen zu sparen und mich Lebendig oder Todt ausfindlich zu machen, ihnen ist nachher zugetragen worden, dass ich in Hause Nr 42 Zuflucht gefunden hatte, [...] die hatten gleich trotz des Streitens des Porteurs, dass er keinen Juden da erein flitzen gesehen hat, veranlaßt das ganze Haus zu durchsuchen vom Heizungs Keller bis zu vier Treppen wurde ich dan gesucht, aber verständlich ohne Erfolg.“

Schwarz-Weiß-Foto: Blick auf einen Berliner Altbau, vom Erdgeschoss bis 3. Obergeschoss

Blick vom Dachboden auf das Haus Uhlandstraße 45, Berlin, 1987; mit freundlicher Genehmigung von Eliot Fiks

Schwarz-Weiß-Foto: Dachboden mit Holzbalken und Backsteinmauer

Dachboden in der Uhlandstraße 156, Berlin, 1987; mit freundlicher Genehmigung von Eliot Fiks

„Inzwischen sind’s 4 Stunden vergangen, die Nacht Dunkelheit hat schon eingeschlagen, jetzt dachtete ich ist die richtige Zeit von meinen Boden versteck auszurücken die Boden Tür war schon vor kurtzen geöffnet worden ich ging dann hinunter, auf den Treppen kommt mir eine alte Frau entgegen, ich frug ihr ob alles unten Ruhig sei, auf was sie mir zu Antwort gab wie man’s nimt, ich lief dan immer an die Wand lang halb erfroren in unser Haus hinein, wie Mutti meine Stimme öhrte rief sie so laut sie nur konnte aus, Rette Dich schnell, und brichte so dan in heftigen Wein Krämpfen aus. Marie stand schon mit meinem Mantel und Hut in Flur bereit, und sagte schnell, schnell, jetzt ewen haben Sie die Beamten wider gesucht, ich lief sodan dafon, Trude stand vor das Haus, und sagte zu mir gehen Sie nicht Links, weil die Beamten sind von Ihnen aus da lang gegangen.“

David Fiks flüchtete aus der Uhlandstraße. Mit einem Taxi fuhr er nach Steglitz. Ich nehme die U-Bahn, fahre auch dorthin und gehe das letzte Stück zur Bergstraße zu Fuß. Hier wohnte Hedwig Schmidt, bei der David Fiks in seiner Not Unterschlupf zu finden hoffte. Ihr Wohnhaus steht auch nicht mehr. Es wurde nach dem Krieg durch einen Wohnblock ersetzt.

Seinen Brief an Max unterschreibt David Fiks mit den Worten „Dein Dich liebender Papa“. Dann fügt er noch als P.S. eine offizielle „Bemerkung“ hinzu: „Ich versichere dass alles laut meine Erinnerungen auf die reine wahre begebenheit beruht […]“. Der persönliche Brief des Vaters an den Sohn bekommt damit noch einen ganz anderen Charakter. David Fiks legt offiziell Zeugnis über die deutschen Verbrechen ab.

Letzte Zeilen eines handschriftlichen Briefes

Nachsatz am Ende des Briefes mit eidesstattlicher Versicherung von David Fiks, Paris, 13. Mai 1939; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2004/7/0/1-11, Schenkung von Max Fiks

Emigration und Neuanfang

Am 29. April 1939 emigrierte David Fiks nach Frankreich, seine Frau und sein jüngster Sohn Alfred kamen im August 1939 nach. Das Geschäft hatte er auf Anweisung des Bezirks Wilmersdorf zum Jahresende 1938 schließen müssen. Es ging an einen „Treuhänder“, der es liquidierte. Als die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzte, hielt sich Familie Fiks in der unbesetzten Zone auf. Über Casablanca und Kuba gelang es ihnen schließlich 1943 in die USA einzuwandern. Ihr Sohn Max, der in der US-Armee diente, hatte ihnen die nötigen Papiere besorgt. David Fiks eröffnete in New Yorks Stadtteil Brooklyn später ein neues Kürschnergeschäft („Furrier-Designer, Storage – Repairing – Restyling“).

„Was versteht schon ein Goi von Pogromen?“

1951 stellte er einen Entschädigungsantrag u.a. wegen des erlittenen „Schadens an Vermögen“. Unter Punkt 2 des Antragsformulars, der in der Entschädigungsbehörde Berlin am Fehrbelliner Platz aufbewahrt wird, heißt es: „Kurze Schilderung des Vorgangs: (gegebenenfalls mit beglaubigten Abschriften diesbezgl. Urkunden)“. Vier Zeilen waren dafür vorgesehen. David Fiks hielt sich kurz: „Während der Nacht v. 9. z. 10. Nov. 1938 wurde das Schaufenster meines Geschäftes zerschmettert, die Inneneinrichtung zerstört und mein Pelzwarenlager geplündert. Urkunden über diesen Vorfall existieren natürlich nicht, u. z. Zt. auch keine Zeugen. (Ich übermittle Namen & Adresse sobald ich einen ermitteln kann.)“

Erst zehn Jahre später erhielt er für den gesamten finanziellen Schaden (inkl. „Judenvermögensabgabe“, „Reichsfluchtsteuer“, usw.) 12.000 DM bewilligt.

Farbfoto: Aktendeckel mit Name, Aktennummer, verschiedenen Stempelaufdrucken

Entschädigungsakte von David Fiks im Entschädigungsamt Berlin, 2018; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 052653

Bewahren

Max Fiks, der Adressat des Briefes, hütete diesen wie einen Schatz. In den Nachkriegsjahrzehnten versammelte sich die Familie alljährlich am Jahrestag des Novemberpogroms und Max las Auszüge aus dem Brief seines Vaters vor. 1981 starb David Fiks.

Sein jüngster Sohn Alfred übersetzte den Brief schließlich ins Englische, um den Inhalt des Briefes auch den englischsprachigen Nachkommen zugänglich zu machen. 2004 übergab Max Fiks das Originaldokument dem Jüdischen Museum Berlin. Seitdem wird das Zeugnis im Archiv bewahrt. Der Brief und eine transkribierte Abschrift des kompletten Textes sind in unseren Online-Sammlungen zu finden.

Zitierempfehlung:

Jörg Waßmer (2018), „... oder ist’s gar der Weltuntergang?“. David Fiks berichtet vom Novemberpogrom 1938 in Berlin.
URL: www.jmberlin.de/node/5853

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