„Deutsche Juden heute” – eine Diskussion aus den 1960er Jahren
Podiumsgespräch im Rahmen der Ausstellung Deutsche Juden heute. Leonard Freed (mit Audio-Mitschnitt)
Anfang der 1960er Jahre war jüdisches Leben in der Bundesrepublik Deutschland alles andere als selbstverständlich. Der US-amerikanische Fotograf Leonard Freed hielt in seinem 1965 erschienenen Buch Deutsche Juden heute Einblicke in das Alltagsleben von Jüdinnen und Juden in Westdeutschland fest, von Düsseldorf über Frankfurt am Main bis München.
Mitschnitt verfügbar

Wo
W. M. Blumenthal Akademie,
Klaus Mangold Auditorium
Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1, 10969 Berlin (gegenüber dem Museum)
Ein Jahr später diskutierte der Jüdische Weltkongress in Brüssel über das Thema Deutsche und Juden. Nahum Goldmann, Gershom Scholem, Golo Mann und Karl Jaspers gehörten zu den Beiträgern. Sowohl die Fotoserie als auch der Weltkongress gehen der Frage nach der Möglichkeit, als Jüdin oder Jude in Deutschland zu leben, nach, und sind damit Teil einer Debatte, die bis heute andauert.

Leonard Freed, Die Jugendgruppe, Düsseldorf, 1961; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/305/26. Weitere Informationen zu diesem Foto finden Sie in den digitalisierten Beständen unserer Sammlung

Leonard Freed, Die Jugendgruppe, Düsseldorf, 1961; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/305/26. Weitere Informationen zu diesem Foto finden Sie in den digitalisierten Beständen unserer Sammlung
Audio-Mitschnitte der Veranstaltung
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Teil 1: Einleitung von Julia Friedrich
Audio als Lesetext -
Teil 2: Keynote von Theresia Ziehe
Audio als Lesetext
Alle in der Keynote erwähnten Fotos finden Sie auf der Webseite zur Ausstellung Deutsche Juden heute. -
Teil 3: Keynote von Thomas Sparr
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Teil 1: Einleitung von Julia Friedrich
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Guten Abend, liebe Sarah Hadda, lieber Thomas Sparr, liebe Theresia Ziehe, liebe Freundinnen und Freunde des Jüdischen Museums, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es freut mich sehr, dass Sie heute Abend hier in die Akademie des Jüdischen Museums gekommen sind. Mein Name ist Julia Friedrich, ich bin die Sammlungs- und Ausstellungsdirektorin des Jüdischen Museums und ich nutze die Gelegenheit, Sie kurz auf die Ausstellung hinzuweisen, an die unsere Veranstaltung heute Abend anknüpft.
Leonard Freed, der 2006 gestorben ist, war ein US-amerikanischer Fotograf, der in den USA unter anderem wegen seiner Dokumentation der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren bekannt geworden ist. Unsere Ausstellung führt zurück in die ersten Jahre seiner Karriere, als der New Yorker Jude Freed an einem sehr katholischen Ort, nämlich beim Fotografieren auf dem Petersplatz in Rom, gerade seine spätere deutsche Frau Brigitte Glück kennengelernt hatte. Die beiden heirateten 1958. Es gibt verschiedene Versionen dieser Geschichte. Einer zufolge hat Freed erst nach der Hochzeit seiner Frau und ihrer Familie gesagt, dass er Jude ist. Und das wäre allerdings bezeichnend für die damaligen Verhältnisse. Und es ist wiederum bezeichnend für den Fotografen Freed, dass er dabei es nicht bewenden ließ, sondern dass er seine Aufenthalte in Deutschland dazu nutzte, mit seinem Instrument, der Kamera, eine Art Messung vorzunehmen, eine Bestandsaufnahme und sich Fragen vorzulegen, die in der jungen Bundesrepublik, aber auch in jüdischen Communities außerhalb Deutschlands einerseits brisant, andererseits weitgehend tabuisiert waren.
Wer sind die Juden, die nach der Katastrophe in Westdeutschland leben? Wo findet man sie? Wie leben sie? Was bedeutet ihnen das Land? Was bedeutet ihnen das Judentum und wie praktizieren sie es? Freeds Serie umfasst 52 Fotografien. 1965 hat er sie in dem Buch Deutsche Juden heute publiziert und das ist auch der Titel unserer Ausstellung, die Sie noch bis zum 27. April sehen können.
Das Großartige an diesen Fotos ist der Blick fürs Konkrete. Wir sehen wirklich den Alltag einiger jüdischer Familien und jüdischer Gemeinden Anfang der 1960er Jahre. Freed geht induktiv vor, das heißt, er zeigt etwas und es liegt dann an uns, an den Betrachtern, damals wie heute, dieses Konkrete und offensichtlich jüdische Stück Wirklichkeit, das wir sehen, auf die große Frage zu beziehen, die wir natürlich im Kopf haben. Wie konnte man und wie kann man als Jude in Deutschland leben? Und der Reichtum der gezeigten Wirklichkeit suggeriert uns nun, dass es auf diese Frage nicht nur eine und bestimmt keine einfache Antwort gibt. Daran könnte die Ausstellung erinnern.
Es war einer ihrer kuratorischen Ausgangspunkte, dass große politische Entwicklungen unserer Zeit diese große Frage immer wieder aktualisieren. Freeds Bilder und die damaligen Debatten, Sie sehen in der Ausstellung auch eine Spiegel-Titelgeschichte und Hermann Kestens Sammelband Ich lebe nicht in der Bundesrepublik können uns helfen, eine Vorgeschichte wahrzunehmen, eine andere Zeit, aus der unsere doch hervorgegangen ist. Meine Kollegin Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie hier am Museum, stellt Ihnen Freeds Deutsche Juden heute gleich näher vor. Danach wird Thomas Sparr, langjähriger Leiter des jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag, Herausgeber der Briefe von Gershom Scholem und Autor vielgerühmter Bücher unter anderem über Paul Celan, Anne Frank und Thomas Mann, uns berichten von einer Tagung des jüdischen Weltkongresses 1966 in Brüssel, die unser heutiges Thema systematisch erkundete. Der Titel lautete Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem. Für das anschließende Podiumsgespräch kommt Sarah Hadda hinzu, Kunsthistorikerin und Drehbuchautorin der frisch mit dem Grimme-Preis gekürten ARD-Fernsehserie Die Zweiflers – wir gratulieren. Zu dieser Serie brauche ich nichts weiter zu sagen, weil ich fest davon ausgehe, dass jede und jeder von Ihnen sie gesehen hat. Die Moderation übernimmt dankenswerterweise mein Kollege Daniel Wildmann, Programmleiter unserer Akademie.
Vielen Dank an alle Referenten, dass Sie heute gekommen sind. Ich danke auch unserem großartigen Veranstaltungsteam, den Kolleginnen und Kollegen, die für den reibungslosen Ablauf heute Abend hier sorgen. Ich wünsche Ihnen nun einen anregenden Abend und übergebe das Mikrofon an Theresia Ziehe.

Teil 2: Keynote von Theresia Ziehe
Alle in der Keynote erwähnten Fotos finden Sie auf der Webseite zur Ausstellung Deutsche Juden heute.
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Über die Frage, inwieweit das Medium Fotografie ein authentisches Abbild der Wirklichkeit wiedergibt, ist schon viel diskutiert worden. Auch wenn die Fotografie es vermag, das Abgebildete realistisch und scheinbar objektiv darzustellen, verdeutlicht schon allein die Perspektive der Fotografin oder des Fotografen ihre Subjektivität. Sie oder er entscheidet, wann, wo und wie das Betrachtete auf dem Foto erscheint.
Leonard Freed sagt dazu, Zitat, „Was man auf den Bildern sieht, ist das, was ich zeigen wollte“
. Er beschreibt sich nicht als Journalisten, der an eindeutigen Fakten interessiert ist, sondern als Autor und vergleicht seine Fotografien mit Gedichten, deren Bedeutung meist vielschichtig interpretiert werden kann.
1929 in Brooklyn, New York, geboren und aufgewachsen, bereist Leonard Freed schon früh Europa und später Orte auf der ganzen Welt. Zunächst möchte er Maler werden, nach einem Grafikdesignstudium entscheidet er sich dann aber für die Fotografie. Seine Kamera wird zur engen Begleiterin, die ihm hilft, das Erlebte zu verarbeiten und die Welt besser zu verstehen. Ihn interessieren Langzeitstudien, die ihn berühren und jahrelang beschäftigen, oft zu sozialkritischen Themen wie Krieg, Rassismus, Kriminalität, Alter oder Obdachlosigkeit.
Als Kind jüdischer Einwanderer aus Osteuropa nimmt Freed auch immer wieder Jüdinnen und Juden in den Blick. Schon früh fotografiert er die orthodoxe jüdische Gemeinschaft in Williamsburg, ab 1958 entsteht eine umfangreiche Serie über Jüdinnen und Juden in Amsterdam und ab 1961 führt er seine Betrachtungen in Westdeutschland weiter, vor allem in den Gegenden um Frankfurt und Düsseldorf. Er möchte die jüdische Minorität sichtbarer machen und somit der Unwissenheit der Deutschen entgegenwirken.
Er beobachtet immer wieder, dass Deutsche sich nicht mit ihrer jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen wollen. Gleichzeitig versucht er mit seiner Kamera sein eigenes Jüdischsein zu ergründen. Zitat, „Der Bedarf, meine Beziehung zum Judentum zu verstehen und zu analysieren und andere Fragen, die mich ratlos machen, führten mich zur Fotografie“
.
Seine Bilder sind skeptisch und hoffnungsvoll zugleich, er gibt wieder, was ihm wichtig ist. Uninszeniert, alltäglich, sensibel und immer nah an den Menschen, die vor seiner Kamera sind.
Auch seine Porträts von bekannten Persönlichkeiten sind keine klassischen Porträts. Auch hier gibt er Situationen und Stimmungen wieder. Er fängt einzelne Momente meist in Nahaufnahmen ein. So steht jedes Motiv für sich und doch ergibt sich aus den einzelnen Aufnahmen ein komplexes Gesamtbild.
Klare Zuordnungen sind ihm zuwider, unperfekte Bilder sind für ihn perfekter, immer geht es ihm um verschiedene Perspektiven.
Aus mehreren tausend Bildern wählt Leonard Freed 52 Motive für das Buch aus, das er 1965 mit dem Titel Deutsche Juden heute veröffentlicht. Die Gestaltung verantwortet der renommierte Designer Willy Fleckhaus.
Mitherausgeber neben Freed ist Hermann Köper. Beiträge von Hermann Kesten, Ludwig Marcuse, Robert Neumann und Alphons Silbermann verbinden die Fotografien kongenial mit eindrücklichen Texten. Zu jedem Motiv schreibt Freed selbst zum Teil sehr ausführliche Bildlegenden.
Die Abfolge der Bilder ist bewusst gewählt. Das allererste Motiv zeigt Marmorbüsten an einer Mauer des alten jüdischen Friedhofs in Frankfurt. Wen sie darstellen, ist nicht bekannt. Auf dem zweiten Motiv ist der jüdische Friedhof in Worms zu sehen, einer der ältesten Europas. Die Motive verdeutlichen den großen Bruch durch die Schoa, aber auch die lange Tradition des Judentums in Deutschland. Ebenso im ersten Bildteil finden sich drei Motive mit direktem Bezug zu Naziverbrechen. Das erste zeigt den Unterarm einer Frau mit einer eintätowierten Nummer des Konzentrationslagers Auschwitz. In einer scheinbar idyllischen Ausflugsszene setzt Freed die Nummer in die Mitte des Bildes. Auf dem zweiten Motiv ist ein Gebetbuch mit eingelegten Fotografien ermordeter Familienangehöriger zu sehen und das dritte trägt den Titel Holzgitter über den Blutgräben im ehemaligen KZ Dachau.
Zum Schluss der Serie richtet Freed seinen Fokus auf junge Menschen, Kinder und Jugendliche. Dieser Abschluss des Buches mit größtenteils offenen und freundlichen Bildern unterstreicht den optimistischen Blick des Fotografen. Seine Bilder zeugen von Empathie, Sensibilität und Ernsthaftigkeit, aber kennen auch humorvolle Details.
Nicht einmal 20 Jahre sind seit dem Ende der Schoa vergangen. Die wenigen jüdischen Gemeinden sind klein. Insgesamt leben um die 25.000 Jüdinnen und Juden in Westdeutschland. Ihre Anwesenheit im Land der Täter ist alles andere als selbstverständlich. Die meisten sind aus Mangel an Alternativen dort und sitzen auf den viel zitierten gepackten Koffern. Auch außerhalb Deutschlands werden sie mit Unverständnis beobachtet und die Mehrheitsgesellschaft ist weiterhin durch Antisemitismus geprägt.
Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus kommt nur langsam in Gang. Nach dem Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem braucht es zwei weitere Jahre, bis der Auschwitz-Prozess in Frankfurt stattfindet. Diplomatische Beziehungen zwischen der BRD und Israel werden erst 1965 aufgenommen. Im selben Jahr diskutiert der Bundestag über die Verjährung von NS-Unrecht. Gleichzeitig wünschen sich nicht wenige Bürger und Bürgerinnen einen Schlussstrich. 1966 tagt der Jüdische Weltkongress in Brüssel, um über das Thema, wir haben es schon gehört, Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem zu diskutieren. In Deutschland wäre eine solche Veranstaltung zu dieser Zeit noch undenkbar gewesen und Thomas Sparr wird dazu gleich sprechen.
Es lohnt sich, sich die verschiedenen Biografien und Erfahrungen der Abgebildeten von Leonard Freeds Fotografien zu vergegenwärtigen. Wir nehmen die Ausstellung weiterhin zum Anlass, zu den unterschiedlichen Lebenswegen zu recherchieren und erfahren weiterhin Neues, das wir sukzessive auf unserer Website präsentieren.
Einige Abgebildete möchte ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen. Ihre Biografien zeigen auch unterschiedliche Gründe auf, warum sie sich in Deutschland aufhielten. Dadurch differenziert sich unser Blick und verdeutlicht die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland in den 1960er Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven.
1962 fotografiert Freed Hugo Spiegel. Er war Viehhändler und entstammte aus einer traditionellen jüdischen Familie, die schon seit Jahrhunderten in Westfalen in Warendorf lebte. Nach der Pogromnacht flüchtet er mit seiner Familie nach Brüssel.
1940 wird er festgenommen und deportiert. Seine Frau und sein Sohn, die im Versteck überleben, kommen wenig später nach. Die Tochter Rosa ist in Auschwitz ermordet worden. Sein Sohn Paul Spiegel, der von 2000 bis 2006 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland war, berichtet in seiner Autobiografie über seinen Vater. Zitat, „In Warendorfs Schützenverein „Hinter den drei Brücken“ wurde mein Vater 1962 Schützenkönig. Zweifellos ein Ereignis mit symbolischem Charakter. Zum ersten Mal wurde ein Jude in Warendorf und im Münsterland und wohl auch in Deutschland Schützenkönig“
. Und er fährt fort: „Ein würdiger König war er, aber kein gedankenloser. Als wir endlich allein waren, sagte er, der nie über die Vergangenheit sprach: ‚Seht ihr, es war richtig heim nach Warendorf zu kehren,‘ und dann, fast verstummt, ‚wenn unser Roselchen das hätte erleben können‘“
.
Ein weiteres Motiv von Leonard Freed zeigt ein junges Mädchen auf dem Schoß ihres Großvaters während einer Bar Mizwa-Feier 1961 in Düsseldorf. Der Vater des Mädchens ist auf dem rechten Motiv in der Mitte abgebildet. Es handelt sich dabei um Alfred Israel, der 1922 in Leipzig geboren wurde. Die Schoa überlebte er in mehreren Konzentrationslagern und kehrte, wie Hugo Spiegel, nach 1945 wieder an seinen Geburtsort, nach Leipzig, zurück. Nach der Gründung der DDR flüchtet er nach Westberlin. Mit dem Wunsch eigentlich in die USA auszuwandern, strandet er in Düsseldorf und bleibt dort.
Im letzten Bildkapitel mit dem Fokus auf junge Menschen porträtiert Leonard Freed 1961 dieses junge Paar an der Rheinpromenade in Düsseldorf in inniger Pose: Ruth und Herbert Rubinstein. Sie lernen sich dort auf einem Chanukka-Ball kennen und heiraten 1964. Heute haben sie drei Kinder, vier Enkelkinder und zwei Urenkelkinder.
Bis zu ihrem gemeinsamen Leben sind ihre Wege sehr unterschiedlich. Herbert Rubinstein kommt aus Czernowitz in der heutigen Ukraine. Sein Vater wird ermordet, doch er und seine Mutter können überleben. Nach dem Krieg halten sie sich eine Zeit lang in Amsterdam auf und kommen dann nach Düsseldorf.
Ruth Rubinstein wird 1942 in Tel Aviv geboren. Als sie 15 Jahre alt ist, muss sie Israel mit ihrer Schwester und ihren Eltern verlassen. Aus gesundheitlichen Gründen entscheidet der Vater, mit seiner Familie in seine Geburtsstadt Köln zurückzukehren. Ruth Rubinstein kann nicht nachvollziehen, warum sie ausgerechnet nach Deutschland müssen. Sie leidet lange darunter.
Eine ganz andere Ausrichtung erfährt das Leben des hier rechts abgebildeten jungen Mannes, Robby Wachs. Das Bild zeigt ihn als Teil einer Jugendgruppe 1961 in Düsseldorf. Er wird 1947 im hessischen DP-Lager Ziegenhain geboren, das in der Obhut der amerikanischen Besatzungsmacht steht. Die Haltung seiner Eltern beschreibt er folgendermaßen, Zitat, „Nein, in das Land der Mörder, wie meine Mutter damals Deutschland nannte, waren meine Eltern keineswegs geflüchtet, sondern in den Schutzbereich der US-Armee. Zudem sollte es für sie nur eine kurze Zwischenstation sein, denn ihr erträumtes Ziel war Palästina, das verheißene Land Eretz Israel. Damit verband sich ihr ganzes Denken und Streben”.
Auch für Robby Wachs steht fest, dass er Deutschland so schnell wie möglich verlassen will. Zum Sechstagekrieg 1967 reist er nach Israel, um dort zu kämpfen. Danach kehrt er noch einmal kurz nach Düsseldorf zurück, um sein Abitur abzuschließen, um dann endgültig nach Israel zu gehen, wo er bis heute lebt. Im Gegensatz zu Robby Wachs’ Haltung verfolgte die jüdische Gemeinde in Düsseldorf das Ziel, ihre Gemeinschaft stetig zu vergrößern. Robby Wachs erinnert sich, wie er diesem Bestreben bei einer Gemeindesitzung mit den folgenden Worten widersprach, Zitat, „Meine Mutter hat mich nicht geboren, damit ich in Deutschland bleibe“
.
Zum Schluss möchte ich noch einmal zu Leonard Freed zurückkommen. Neben jüdischen Aspekten fotografiert er seit den frühen 1950er-Jahren auch immer wieder andere Motive in Deutschland und führt diese 1970 in dem Buch Made in Germany zusammen. Bemerkenswert sind einzelne kleine Texte am Ende des umfangreichen Bildteils, die mit Trauma 1 bis 4 überschrieben sind und persönliche Geschichten und Erfahrungen Freeds zu Vorurteilen und Antisemitismus wiedergeben. Später schreibt er, Zitat, „Dass ich in den USA geboren bin, gibt mir, so glaube ich, eine eigene, frische Perspektive, durch die mir Dinge auffallen, die der Durchschnittsdeutsche übersieht“
.
Und dies gilt sicherlich auch für seine Fotografien aus der Serie Deutsche Juden heute.
Und jetzt übergebe ich an Thomas Sparr.

Teil 3: Keynote von Thomas Sparr
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Guten Abend, meine Damen und Herren. Vielen Dank für die Einladung hier ins Jüdische Museum. Ich habe letzte Woche, geführt von Frau Ziehe, die Ausstellung gesehen, kann Ihnen die sehr ans Herz legen.
Wenn Sie die Bilder sehen, Sie haben jetzt schon einen Eindruck davon bekommen, werden Sie viele Motive sehen, die einen sehr berühren. Dieses Unsichere, aber auch freudig nach vorn Blickende, die Verhaltenheit, das Versteckte, auch das Offene, vielleicht auch die Sehnsucht nach dem Offenen. Und unsere Überlegungen, die Überlegungen von Amir Eshel, einem israelisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler und mir, hatten mit dieser Ausstellung gar nichts zu tun, sondern das hat der Zufall gefügt. Und Daniel Wildmann hatte mich dann gefragt oder mir gesagt, dass wir da vielleicht etwas zusammen machen könnten. Also wir wollen ein wenig diese Ausstellung und den Zufall der Zusammenführung mit einem Buch zusammenbringen.
Am 4. August 1966 fand, während des zehntätigen Jüdischen Weltkongresses mit Hunderten von Delegierten in der belgischen Hauptstadt, ausgerechnet in der belgischen Hauptstadt, eine Diskussion über Deutsche und Juden, nicht so sehr, wie es hier in der Ausstellung heißt, Deutsche Juden, sondern Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem statt. Eingeladen hatte der damalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, der sowohl das Thema setzte, wie die Diskussionsteilnehmer auswählte.
Fünf Männer, die im Wesentlichen einer Generation, nämlich seiner, angehörten. Zwei davon waren jüdische Historiker, drei nichtjüdische Deutsche, unter diesen wiederum ein Historiker, ein Politiker und ein Philosoph. Sie alle waren aus Israel, den USA und aus Deutschland angereist. Der Philosoph Karl Jaspers hatte aus Basel eine Großbotschaft übermittelt, die verlesen wurde.
Beim Attribut nichtjüdisch, meine Damen und Herren, muss man sogleich einschränken. Golo Mann stammte mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie.
Karl Jaspers war durch seine jüdische Ehefrau Gertrud, von der er sich nicht trennte, dem nationalsozialistischen Terror, der Entrechtung und Bedrohung, besonders ausgesetzt. Das galt auf andere Weise auch für Eugen Gerstenmaier, der inhaftiert war.
21 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Millionen Toten, darunter den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, trafen zum ersten Mal offiziell Deutsche und Juden zusammen. Offiziell heißt öffentlich. In Wassenaar, im Schloss Wassenaar war es in den Niederlanden, kamen Delegationen der israelischen Regierung und der deutschen Regierung zu den Verhandlungen über die Entschädigung, über die Pizuim zusammen. Das war hier etwas anderes. Hier nämlich waren diese Vorträge öffentlich. Öffentlich heißt, dass sie veröffentlicht wurden, dass man sie nachlesen konnte und dass sie 1967 zu einem Band der Edition Suhrkamp wurden. Ein Band, der damals sehr gefragt war.
Wer waren die Protagonisten? Es war zum einen Nahum Goldmann. Nahum Goldmann werden die wenigsten von Ihnen noch kennen. Er war eine legendäre Gestalt, der noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, im Ersten Weltkrieg sehr viel nachgesonnen hat über Deutschtum und Judentum, über die Gedankenfigur einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Völkern. Er hat sie in verschiedenen Schriften niedergelegt und er hat einen berühmten Assistenten gehabt, nämlich Schimon Peres. Schimon Peres, so dürfen wir vermuten, war, wenn er nicht in Brüssel anwesend war, hat er von dieser Tagung sehr viel gehört.
Der andere und erste Redner war Gershom Scholem. Gershom Scholem, den meisten von Ihnen ein Begriff, 1897 hier in Berlin geboren. Gershom Scholem, ein Historiker der Kabbala, der ein eigenes Fach begründet hatte. Er hielt den Vortrag, der dem Band dann auch den Namen gab Deutsche und Juden. Er hat es allerdings nicht unterschrieben mit dem Untertitel „ein ungelöstes Problem“, sondern er hat gesagt, es gebe eine Trennlinie zwischen Deutschen und Juden. Ein deutsch-jüdisches Gespräch habe es niemals gegeben. Es sei nicht mehr als ein Selbstgespräch, das die Juden geführt hätten in Deutschland. Und die Einzigen, die den Juden etwas zu sagen gehabt hätten, wären die Antisemiten gewesen. Es sei nur nichts Förderliches. So hat er es gesagt. Er sprach auch von einem Schrei ins Leere. Und die 1961 abgeschlossene Bibelübersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche von Rosenzweig und Buber begonnen, in Jerusalem von Martin Buber beendet, nannte er das Grabmal einer in unsäglichem Grauen erloschenen Geschichte und Beziehung. Das war zu jener Zeit, wo diese Bilder, wo Sie diese Bilder von Leonard Freed sehen können.
Der zweite Redner war Golo Mann. Golo Mann, 1909 in München geboren, der Sohn von Thomas Mann, der einen melancholischen Ausblick gab auf seine Erfahrungen deutsch-jüdischer Geschichte. Er, so hat er gesagt, wolle sich nicht fortstehlen aus der Verantwortung für sein Volk, das Volk, dem er sich zurechnete. Das waren die Deutschen. Und so hat er gesagt, er werde nie wieder seinem Volk trauen können, nach dem, was geschehen sei.
Salo W. Baron, den man vielleicht, meine Damen und Herren, am wenigsten kennt, Ende des 19. Jahrhunderts geboren, ist er einer der großen amerikanischen, großen und bedeutendsten Vertreter jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert in den USA geworden. Wir kennen ihn, nach meinem Gefühl, viel zu wenig. Er hat gleich drei Doktortitel erworben in Wien, nämlich den Doktortitel der Rechtswissenschaften, der politischen Wissenschaften und der Philosophie. Er hatte eine lange, lange Zeit, er war der älteste Teilnehmer an diesem Podium, hinter sich. Und er war im Unterschied zu Gershom Scholem, der sich gegen die deutsch-jüdische Symbiose wandte, hat Salo W. Baron eine Mittlerposition eingenommen. Er hat gesagt, es hat in der Geschichte von Juden in Deutschland immer wieder auch Phasen des Zusammenwirkens, des Zusammenlebens gegeben. Es habe positive Aspekte gegeben. Und es ist sehr interessant, welchen Ausblick er gibt. Er sagt nämlich, im Jahre 1966, irgendwann würden Juden wieder nach Deutschland zurückkehren. Irgendwann würden sie sich in größerer Zahl hier niederlassen. Und er sagt, man solle nicht die Idee einer Liebe zwischen beiden Völkern propagieren, sondern so etwas wie eine nüchterne Beziehung schaffen zwischen Deutschen und Juden. Dann sei die Möglichkeit offen. Und er verweist dafür auf die Geschichte der deutsch-französischen Annäherung 1963. Bedenken Sie, der Élysée-Vertrag lag damals gerade drei Jahre zurück. Das war für ihn ein Modell. Das ist sehr interessant, wie er das beschrieben hat. Er starb übrigens im europäischen Schicksalsjahr 1989 im Alter von 95 Jahren.
Gerstenmaier war der Repräsentant des politischen Deutschlands, der Bundesrepublik Deutschland. Er war Bundestagspräsident. Er war 1962 schon zu einem Arbeitsbesuch, einem offiziellen Besuch in Israel gewesen. Und er hat eine vielfach als unglücklich empfundene Rede gehalten, indem er nämlich behauptet habe, das neue Deutschland, also in Anführungszeichen „neue“ Deutschland, nicht die Zeitung, habe sich dem Projekt verschworen, dass es so etwas wie den Holocaust, den man damals noch nicht dem Namen nach kannte, gebe. Er hat also beschwichtigt und eine, wie gesagt, vielfach als unglücklich empfundene Rede gehalten, die ihm auch eher geschadet hat. Er ist dennoch so etwas wie ein Brückenbauer zwischen Israel und Deutschland gewesen, genauso wie der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der im Jahre 1960 als erster auf Deutsch in der Hebräischen Universität eine Rede gehalten hat. Die Studenten hatten demonstriert und als dann Professor Heuss anfing zu reden, wurden sie ruhig und haben zugehört. Das ist eine sehr, sehr interessante Geschichte dieser ersten Besuche von deutschen Politikern. Diese Zusammenkunft, meine Damen und Herren, in Brüssel war nur möglich, weil es diplomatische Beziehungen gab, die Aufnahme, die so schwierig war. Wir denken in diesem Jahr an 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Das war sicherlich ein Ermöglichungsgrund dieser Zusammenkunft. Und der Besuch von Konrad Adenauer 1966 in Jerusalem, der fast mit einem Eklat geendet hätte. Auch da sah man die Anspannung der Beziehung noch. Konrad Adenauer wollte das Land früher verlassen, weil Levi Eschkol, der Ministerpräsident, ihm Vorhaltungen machte, dass die Summe der Entschädigung noch nicht ausreiche.
Der letzte Beitragende, meine Damen und Herren, in Brüssel war der Philosoph Karl Jaspers. Und Karl Jaspers hat in seiner Rede das erste Mal von einer Verantwortungsgemeinschaft gesprochen. Er hatte 1946 im Verlag Lambert Schneider in Heidelberg schon die These von der Kollektivschuld, er nannte diese Schrift Die Schuldfrage, aufgestellt. Dieses Motiv griff er wieder auf und hat die Deutschen gemahnt, sich als eine Verantwortungsgemeinschaft, nicht als eine Schicksalsgemeinschaft, sondern als eine Verantwortungsgemeinschaft zu verstehen. Diese Rede ist besonders bedeutend, wie ich finde, weil sie so etwas wie eine Hinterlassenschaft des 1969 im hohen Alter gestorbenen Philosophen bedeutet, des Heidegger-Schülers, des existenzialistischen Philosophen, der in dieser Rede noch einmal so etwas wie eine geistige Orientierung gab und der ein Jahr zuvor einen besonders wichtigen Text geschrieben hat, an den man heute auch denken kann, nämlich 60 Jahre später, Wohin treibt die Bundesrepublik?. Meine Damen und Herren, Wohin treibt die Bundesrepublik? ist dieser Titel und nun freue ich mich auf das Gespräch.
Dankeschön.
Es diskutieren: Sarah Hadda (Kunsthistorikerin und Drehbuchautorin), Thomas Sparr (Mitherausgeber von Deutsche und Juden. Dokumentation einer Debatte) und Theresia Ziehe (Kuratorin für Fotografie, JMB)
Moderation: Daniel Wildmann (Programmleiter W. Michael Blumenthal Akademie, JMB)

Alle Angebote zur Ausstellung Deutsche Juden heute. Leonard Freed
- Über die Ausstellung
- Deutsche Juden heute. Leonard Freed – 11. Nov 2024 bis 27. Apr 2025, mit allen Fotos aus der Ausstellung und Essays der Kuratorinnen
- Digitale Angebote
- Aktuelle Seite: „Deutsche Juden heute” – eine Diskussion aus den 1960er Jahren – mit den Keynotes der Kuratorin Theresia Ziehe und von Thomas Sparr, Audio-Mitschnitt, 2025
- Siehe auch
- Leonard Freed, Fotograf
- Leonard Freeds Fotografie von Hugo Spiegel
- Fotografien von Leonard Freed in digitalisierten Beständen unserer Sammlung
Audio-Mitschnitte: Veranstaltungen zum Nachhören (69)