Veröffentlicht von am 5. September 2017 0 Kommentare

Als ein Trauschein nicht bloß ein Stück Papier war

Wie jüdische Erinnerungsstücke chinesische Geschichte bewahren

Eine der später im Text beschriebenen, reich verzierten chinesischen Heiratsurkunden

Chinesische Heiratsurkunde für Irma Bielschowsky (1902–2000) und Albert Elias Less (1887–1952) von 1944; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Gert und Brigitte Stroetzel

Vor einer Weile teilte ich in diesem Blog meine Gedanken zu einigen Objekten aus Schanghai in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin. Nun möchte ich Sie noch auf drei Heiratsurkunden aufmerksam machen, die mir nicht nur wegen ihrer eleganten Ausführung ins Auge sprangen – und weil sie nach über 70 Jahren so gut erhalten sind –, sondern auch, weil es mich erstaunte zu sehen, wie Elemente der chinesischen Kultur in das Leben von Jüdinnen*Juden, die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, Einzug gehalten hatten; und das, obwohl sie in Schanghai weitgehend ihre eigenen kulturellen und pädagogischen Aktivitäten aufrecht erhielten, mit Zeitungen, jüdischen Schulen, Konzerten, Sportveranstaltungen, Theateraufführungen (z. B. Delila und Nathan der Weise) und Festen (z. B. eine nicht ganz nüchterne Purim-Feier).

Im heutigen China ist ein Trauschein ein Stück Papier, so groß wie ein Ausweis, mit einem schmucklosen Text, Schwarz auf Weiß. Da die Scheidungsrate einen historischen Höchststand erreicht hat und sich immer mehr Chines*innen gegen die Ehe entscheiden, hat dieses Papier derzeit wenig Bedeutung, wenn es nicht gerade für die Gütertrennung benötigt wird.

Eine der später im Text beschriebenen, reich verzierten chinesischen Heiratsurkunden

Chinesischer Heiratsvertrag für Meta Hirschel-Wollny (1922–2000) und Hans Egon Arnheim von 1946; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Meta Schiowitz, Foto: Jens Ziehe

Der rasende Wandel der Gesellschaft und der Verfall der traditionellen Werte wecken nun in vielen jungen Menschen nostalgische Gefühle für die Jahre der Republik China. Nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie 1912 versuchte sich die neu gegründete chinesische Republik an die moderne Zivilisation anzupassen. In den folgenden Jahrzehnten versank das Land zwar in politischem Chaos, kulturell und intellektuell aber blühte es auf und erlebte eine Phase beispielloser Freiheit – vor allem im Vergleich zu den ersten 30 Jahren der kommunistischen Herrschaft ab 1949.

Die Heiratsurkunden aus Schanghai, die ich in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin fand, sind mit einer Mischung aus traditionellen und modernen Elementen verziert und sollten offenbar den Geschmack einer neuen Generation von Chines*innen treffen, die wachsende Freiheiten genoss und zumindest in den Städten seit dem frühen 20. Jahrhundert die Liebesheirat zu einer gängigen Praxis gemacht hatte. Diese Trauscheine sind gesellschaftliche Zeitzeugnisse. Besonders wertvoll werden sie dadurch, dass so wenige Objekte ihrer Art all die Kriege und Revolutionen der vergangenen 70 Jahre (speziell die »Große Proletarische Kulturrevolution«) überlebt haben.

Eine der im Text beschriebenen Heiratsurkunden

Heiratsurkunde aus Schanghai in chinesischer Schrift von Johannes Dombrowsky und Ilse Kussel (1923–1997) von 1946; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Ayya Khema, Foto: Jens Ziehe

Eins der Zertifikate ist auf 1944 datiert, die beiden anderen auf 1946. Aus den beiden Urkunden von 1946 erfahren wir, von wo die Hochzeitspaare kamen: im ersten Fall aus Wien und Berlin, im zweiten aus Breslau, Deutschland (das zu dieser Zeit allerdings bereits zu Polen gehörte), und wiederum Berlin. Diese Trauscheine zeigen eine Fülle chinesischer Symbole: den chinesischen Drachen (Macht und Glück), den chinesischen Phönix mit Pfingstrose (Harmonie und Wohlstand), die chinesische Elster (günstiges Schicksal und Zufriedenheit), zwei Mandarinenten (Eheglück und Treue), zwei Schmetterlinge (Streben nach Liebe und Freiheit, wie in der Legende von den Schmetterlingsliebenden), die Lotosblüte (Vornehmheit und Reinheit), die Pfirsichblüte (Liebesglück und Lebensfreude) und noch andere. Der Segen auf beiden Urkunden ist in poetischer Sprache geschrieben und bezieht sich in Zitaten und Anspielungen auf Liebesgedichte aus dem Buch der Lieder (ca. 600 v. u. Z.) und auf Verse aus der Zeit der Tang-Dynastie (ca. 7. bis 9. Jahrhundert u. Z.).

Für heutige Chines*innen können diese Urkunden zur Erinnerung an die Bedeutung und traditionelle Wertschätzung von Ehe und Familie dienen. Für die Jüdinnen*Juden bezeugen die Trauscheine – verbunden mit der Entscheidung, in Kriegszeiten die Ehe einzugehen (auf den Zweiten Weltkrieg folgte der chinesische Bürgerkrieg zwischen Nationalist*innen und Kommunist*innen) – die Fortdauer der jüdischen Gemeinde im Exil und ihre Leidenschaft für das Leben und die Liebe selbst in den schwersten Zeiten.

Als ich den Namen auf den Zertifikaten nachforschte, stieß ich auf eine traurige Geschichte. Hans Egon Arnheim aus Wien, genannt auf einem der Trauscheine von 1946, war 1939 zusammen mit seiner damaligen, ebenfalls aus Wien stammenden Verlobten Henny Pia aus dem nationalsozialistisch besetzten Österreich nach Schanghai geflohen. Doch als es Henny nicht gelang, ihre Mutter Ella Herzer-Königsberger davon zu überzeugen, ebenfalls nach Schanghai zu kommen, kehrte sie nach Wien zurück und verschwand spurlos (vgl. Karin Ploog: …Als die Noten laufen lernten…, Teil 2: Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945. Komponisten – Librettisten – Texter, S. 349).

Reisepass aus gelblichem Papier mit chinesischen Schriftzeichen, aufgeschlagen an der Stelle des Passbildes und eines roten Stempels

Chinesischer Reisepass von Robert Goldschmidt (1904–1980), 1941–1953; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Liliane Ransom

Wegen der sprachlichen und kulturellen Barrieren hatten die meisten jüdischen Flüchtlinge keinen engen Kontakt zu den chinesischen Einwohner*innen und blieben weitgehend unter sich. Allerdings fand ich bei meinen Recherchen zwei interessante Objekte, die nicht nur von kulturellen Wechselwirkungen zeugen, sondern belegen, wie jüdische Flüchtlinge und Chines*innen gemeinsam Familien gründeten. Das eine ist eine Hochzeitskarte mit dem chinesischen Namen Nee Cheng, das andere ein chinesischer Pass mit dem Foto eines europäisch aussehenden Menschen. Ich fand heraus, dass die Chinesin Nee Cheng gehörlos war und den ebenfalls gehörlosen Ghettobewohner David Ludwig Bloch heiratete, dem im November 1938 auf wundersame Weise die Flucht aus dem Konzentrationslager Dachau gelungen war. Beide Eheleute waren Kunstliebhaber*innen, und Herr Bloch hat die Hochzeitskarte vermutlich selbst gestaltet.

Schwarz-Weiß-Foto eines chinesisch und eines europäisch aussehenden Mannes

Robert Goldschmidt (1904–1980) und sein chinesischer Adoptivvater Ho Hsien-Li (gest. 1944), ca. 1940–44; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Liliane Ransom

Der jüdische Mann auf dem chinesischen Pass ist Robert Goldschmidt, der am 20. Mai 1940 von dem Chinesen Ho Hsien-Li adoptiert und dann unter dem Namen He Gaoxu/Ho Robert Goldschmidt chinesischer Staatsbürger wurde. Seinen Pass erhielt er im Januar 1941 in der chinesischen Kriegshauptstadt Chongqing, und später gelang es ihm, noch einige seiner Familienmitglieder nach China zu holen.

All die Geschichten hinter diesen Gegenständen sind jüdische Geschichten, doch es sind auch chinesische Geschichten, wenngleich sie in China noch niemand kennt. Nun habe ich vor, diese Geschichten, mit noch mehr Einzelheiten, meinen Landsleuten zu erzählen. Hoffentlich werden sie davon ebenso berührt sein, wie ich es bin.

Während seines Praktikums an unserem Museum war es für Wei Zhang eine inspirierende und ergreifende Erfahrung zu sehen, wie Menschen verschiedener Ethnien, Lebenshintergründe und Kulturen aus der Leidenschaft und der Liebe zum Leben heraus zu einer Familie werden können.

Veröffentlicht unter Geschichte, Im Jüdischen Museum Berlin, Sammlung
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