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Grabsteine auf einem Friedhof, darüber das Porträt eines Mannes.

Georg Meyer
(1873–1916)

»Mir ist, als hätte ich eine furchtbare Ohrfeige erhalten.«

Dieser kurze Satz, am 29. Oktober 1916 von Hauptmann Georg Meyer in seinem Tagebuch notiert, steht stellvertretend für die Empörung und Kränkung, welche deutsch-jüdische Soldaten – und mit ihnen die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes – im Herbst 1916 empfanden.

Auslöser war die vom preußischen Kriegsminister am 11. Oktober angeordneten »Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden«, die als »Judenzählung« in die Geschichte eingegangen ist.

Eine antisemitische Statistik

Begründet wurde sie mit den in der Bevölkerung kursierenden Gerüchten, die Juden erfüllten ihre militärischen Pflichten nicht und drückten sich vor dem Einsatz an der Front.

Die Entrüstung bei Georg Meyer war gewaltig:

»Das nach 2 Jahren grosser Zeit und völlige Hingabe an unsere Heimat. Im Frieden würde ich den Abschied nehmen, jetzt muss ich natürlich erst recht aushalten.«

Militärorden an einer Kette, darüber eine weitere Medaille

Frackkette mit Orden von Georg Meyer in Miniaturform, darüber die Prinzregent Luitpold-Medaille 1905 in Gold. Georg Meyer wurden neben der Medaille auch mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse, dem Bayerischen Militär-Verdienstorden IV. Klasse und dem Verdienstorden Bayerns für 20-jährige Militärzeit ausgezeichnet; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Vaterlandsliebe

Zwei Jahre zuvor war Georg Meyer mit großer Begeisterung und einem für ihn selbstverständlichen Pflichtgefühl in den Krieg gezogen.

Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn wurde er zum Hauptmann befördert, einer der höchsten Ränge, die Juden in den deutschen Heeren erreichen konnten, und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Meyer fühlte sich »wirklich ganz eins mit unserem herrlichen Vaterland.«

Sohn eines Rabbiners

Geboren wurde Georg Meyer am 9. Mai 1873 in Hannover als letztes von 13 Kindern des Landrabbiners Samuel Meyer und seiner Frau Lina, geb. Sieskind. Sein Vater starb, als Georg neun Jahre alt war.

Studium und berufliche Karriere

Nach der Schule und einer kurzen Banklehre studierte er Maschinenbau in Karlsruhe und Straßburg, wo er 1895 promovierte. Es folgte sein Militärdienst als »Einjährig-Freiwilliger« in Würzburg beim 2. Feldartillerie-Regiment der Bayerischen Armee.

Schwarz-weiß-Foto: Mann mit Schnurrbart, im Anzug

Porträt von Georg Meyer; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Nach einer zweisemestrigen Hospitanz an der Königlich Technischen Hochschule Charlottenburg begann er bei der MAN Maschinenfabrik in Berlin zu arbeiten. Ab September 1900 war Meyer als Konstrukteur bei Siemens & Halske tätig und ab 1903 bei den Siemens-Schuckertwerken. Dort stieg er als Fachmann für Elektromotoren zum Oberingenieur und Prokuristen auf.

Dem Militär blieb Meyer verbunden. Regelmäßig nahm er an Reserveübungen teil und wurde mehrmals befördert: zum Vizewachmeister, Leutnant und Oberleutnant.

Zu den Waffen

Gleich zu Beginn des Krieges, am 2. August 1914, rückte der nunmehr 41-Jährige zum 8. Feldartillerie-Regiment der bayerischen Armee ein, dessen Regimentsinhaber war Prinz Heinrich von Preußen, ein Bruder Kaiser Wilhelms II.

Schwarz-weiß-Foto: Uniformierter Soldat mit einem Pferd

Georg Meyer in Uniform mit Pferd, 5. August 1913; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Georg Meyer begann ein Tagebuch zu führen. Fast täglich schrieb er über die militärische Lage seiner Einheit, seine Gespräche mit Vorgesetzen und Offizieren sowie über sein persönliches Befinden. Im Laufe der folgenden 28 Monaten füllte er 23 Hefte, die eine einzigartige Quelle zu den Erfahrungen eines deutschen Juden im Ersten Weltkrieg bilden.

Schwarz-weiß-Foto: Ein Tross Soldaten mit Eseln, durch eine Ebene marschierend, im Hintergrund Berghügel

Maschinengewehr-Abteilung mit Maulesel nördl. Colroy-la-Grande, Foto aus dem Kriegsalbum von Georg Meyer, Vogesen, 1914; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jörg Waßmer

An der Front

Mitte August zog Georg Meyer als Anführer des 1. Ersatzbataillons des Regiments ins Feld. Bis zum Ende des Jahres war das Bataillon an Schlachten in den Vogesen sowie bei Nancy-Épinal beteiligt.

Im Juli wurde sein Bataillon neu gegliedert und gehörte fortan zur 4. Batterie des Reserve-Feldartillerie-Regiments Nr. 10. Unter Meyers Führung war es ab Ende November dauerhaft in Stellungskämpfe vor Verdun verwickelt.

handschriftliche Zeile

Ausschnitt aus dem Tagebucheintrag vom 8. November 1916 (»Nach dem ›Judenerlaß‹«); Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

»Bleierne Stimmung«

Die angeordnete »Judenzählung« lastete schwer auf dem Hauptmann. »Von bleierner Stimmung« sei er, schrieb er am 8. November 1916. Doch er sah »nach dem ›Judenerlaß‹« keine Möglichkeit, sich von den Siemens-Schuckertwerken für kriegswichtige Arbeit zurückbeordern zu lassen.

Er fragte dennoch knapp zwei Wochen später bei der Firma an, ob man ihn »zur Leitung der neuen Kanonenfabrik gebrauchen kann«, bezweifelte aber, dass man ihn gehen lassen würde. »Ich stehe zwischen zwei Türen und fühle mich sehr, sehr wenig wohl dabei.«

Nach der »Ohrfeige« das EK I

Am 14. Dezember 1916 erhielt Georg Meyer von seinen Abteilungskommandeur die telefonische Nachricht, dass ihm am Vortag das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen worden war.

Tagebuchseite, handschriftlich

Tagebuch, Heft 22 von Georg Meyer mit Eintrag vom 8. November 1916; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Eisernes Kreuz I. Klasse (links), schwarzes Klappetui (Mitte) und passgenauer Schutzkarton (rechts)

Eisernes Kreuz I. Klasse von Georg Meyer, 1914–1916; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Wie er notierte, war seine Freude »nicht so groß wie beim EK 2«. Die Auszeichnung verdanke er nur seiner Batterie, er freue sich aber, sich damit zusammen mit seiner Frau präsentieren zu können. Und für seinen 1912 geborenen Sohn Klaus Ulrich »soll es die dringlichste Erinnerung an mich und mein Streben sein! Das walte Gott!«

Ovale Erkennungsmarke, Aluminium, graviert

Militärische Erkennungsmarke von Georg Meyer, ca. 1914–1916; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Georgina Meyer-Düllmann und Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Tags darauf war Georg Meyer tot, getroffen von einem Artilleriegeschoss.

Beerdigung in der Heimat

Georg Meyers Leichnam wurde nach Hannover überführt und am 31. Dezember 1916 auf dem jüdischen Friedhof bestattet, in unmittelbarer Nähe zum Grab seines Vaters.

In der Trauerrede stellte Rabbiner Samuel Freund den Psalm 119:30 als Leitsatz des Lebens von Georg Meyer heraus: »derech emuna bacharti«, zu Deutsch »den Weg der Treue habe ich gewählt«. Er unterstrich Meyers Bindung zur Familie, zum Beruf und zum Vaterland. Und er hob auch die Treue »zu seinem angestammten Glauben« hervor, auch wenn er »der religiösen Übung frei gegenüber« gestanden habe.

Rabbiner Freund zitierte Meyer mit folgenden Worten, die er bei der Beschneidung seines Sohnes gesprochen hatte und die seine Überzeugung auf den Punkte brachten:

»Wenn der Ruf der Pflicht an ihn ergehe, möge er immer mit dem Erzvater Abraham sprechen: hineni – ›ich bin bereit!‹ und wenn es gelte für seine Überzeugungen mannhaft einzutreten, dann möge er mit dem Propheten Jona rufen: iwri anochi – ›ich bin ein Jude‹.«

Gemälde eines Soldaten, in Uniform an einem Tisch sitzend, lesend

Porträt von Georg Meyer in Uniform, gemalt von Rudolf Seebold, Vogesen, 1916; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Ronaldo Meyer, Foto: Jens Ziehe

Forderung nach Rehabilitierung

Die Verbitterung über die »Judenzählung«, welche die Pflichterfüllung und den Patriotismus der jüdischen Soldaten in Frage gestellt hatte, wirkte nach dem Tod von Georg Meyer innerhalb seiner Familie stark nach.

Sein Bruder, der Justizrat und Senator Dr. Siegmund Meyer, drückte seinen Unmut darüber in einem Schreiben an den Fraktionsvorsitzenden der Zentrumspartei aus. Die Partei hatte im Reichstag beantragt, auch das jüdische Personal in der zivilen Kriegswirtschaft zu erfassen. Siegmund Meyer leitete seine Schrift auch an den Kriegsminister von Stein weiter und wurde deutlich: »zwei meiner Söhne, acht Neffen und zahlreiche Vettern stehen im Grade von Rittmeister bis zum Gemeinen im Felde. Sie leiden, wie alle jüdischen Soldaten, unter der Durchführung der Massnahmen betreffend die Konfessionslisten und empfinden dieselbe als eine ihnen persönliche angetane, infamierende Kränkung«. Auch Juden im ganzen Lande »sind mit mir entrüstet und empört«.

Meyer schrieb offensichtlich auch an Generalfeldmarschall von Hindenburg. Dieser antwortete, entsprechend der Argumentation des Kriegsministeriums, dass sich der Erlass nicht gegen die Juden richtete, sondern erfolgt sei, »um unberechtigten Angriffen gegen das Judentum entgegentreten zu können.«

Keine Aufklärung

Die Ergebnisse der Zählung veröffentlichte die Regierung jedoch nicht und unterließ es somit, den antisemitischen Vorwurf der Drückebergerei zu widerlegen.

Erst nach Ende des Krieges kamen verlässliche Zahlen ans Licht – und belegten, dass proportional fast genauso viele deutsche Juden an der Front gekämpft hatten wie Nichtjuden.

Weitere Dokumente, Fotografien und Objekte zu Georg Meyer finden Sie in unseren Online-Sammlungen.

Aubrey Pomerance, Archiv

Abbildung einer männlichen Statue mit Schwert (am Sockel: »HINDENBURG«)

Abbildung des geplanten Kriegerdenkmals Der eiserne Hindenburg von Berlin, Berlin, 5. Oktober 1915; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Esther-Eva Schmidt

Zitierempfehlung:

Aubrey Pomerance (2016), Georg Meyer (1873–1916).
URL: www.jmberlin.de/node/4605

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