Presseeinladung zur Verleihung des 21. Preises für Verständigung und Toleranz

Herta Müller und Barrie Kosky werden ausgezeichnet

Pressemitteilung von Di, 11. Okt 2022

Am Samstag, den 12. November 2022, verleiht das Jüdische Museum Berlin zum 21. Mal den Preis für Verständigung und Toleranz. Die Aus­zeichnung geht in diesem Jahr an die Schriftstellerin und Nobel­preisträgerin Herta Müller und an den Theater- und Opern­regiss€ Barrie Kosky. Die Laudatio für Herta Müller hält der Schriftsteller und Übersetzer Ernest Wichner, die für Barrie Kosky die Musik­kritikerin Julia Spinola. Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, wird die Preise überreichen.

Kontakt

Dr. Margret Karsch
Pressesprecherin
T +49 (0)30 259 93 419
presse@jmberlin.de

Postadresse

Stiftung Jüdisches Museum Berlin
Lindenstraße 9–14
10969 Berlin

Der Preis für Verständigung und Toleranz

Das Jüdische Museum Berlin zeichnet mit dem Preis für Verständigung und Toleranz seit 2002 Persönlich­keiten aus Kultur, Politik und Wirtschaft aus, die sich auf herausragende Weise um die Förderung der Menschen­würde, der Völker­verständigung, der Integration von Minderheiten und des Zusammen­lebens unterschiedlicher Religionen und Kulturen verdient gemacht haben. Der Preis wird traditionell im Rahmen eines festlichen Dinners gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin und den Freunden des Jüdischen Museums Berlin verliehen.

Berichterstattung und Akkreditierung

Für die Bericht­erstattung melden Sie sich bitte bis zum 10. November 2022, 12 Uhr, per E-Mail unter presse@jmberlin.de an. Wegen der hohen Sicherheits­auflagen und der begrenzten Plätze für Medienvertreter*innen erfolgt eine personen­gebundene Akkreditierung durch die Presse­stelle des Museums. Nicht akkreditierten Medienvertreter*innen kann am 12. November kein Zutritt gewährt werden. Mit der Akkreditierungs­bestätigung erhalten Sie den detaillierten Ablaufplan und die dann geltenden COVID-Bestimmungen. In der Presselounge wird während des Abends ein Catering für Medienvertreter*innen bereitgestellt.

Bildmaterial für die Bericht­erstattung zur Preis­verleihung finden Sie zum Download ab dem 13. November 2022, 11 Uhr, unter Bildmaterial für die Pressearbeit .

Bislang angemeldete prominente Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien

Iris Berben, Schauspielerin; Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.; Dr. Andreas Görgen, Leitender Beamter bei der Beauftragten für Kultur und Medien; Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus; Christine Lambrecht, Bundesministerin der Verteidigung; Christian Lindner, Bundesminister der Finanzen; Milena Rosenzweig-Winter, Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin; Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident a.D.

Preisträgerin Herta Müller

Herta Müller ist ein politischer Mensch. Der Literatur­nobelpreis ist nicht nur ein literarischer, sondern auch ein politischer Preis. Die Schwedische Akademie vergibt ihn alljährlich – Ausnahmen bilden nur einzelne Jahre während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs – „an denjenigen, der in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat“. Herta Müller hat den Preis 2009 erhalten. Sie zeigt in ihren Texten, dass Sprache Freiräume schaffen und befreien kann – von den Unterdrückungs­mechanismen einer Diktatur ebenso wie von Einschränkungen, die in Gruppen- oder privaten Beziehungs­zusammenhängen herrschen.

Die Autorin ist 1953 in der damaligen Volksrepublik Rumänien geboren und als Angehörige der deutsch­sprachigen Minderheit im Banat aufgewachsen. Ihr Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gedient, ihre Mutter wurde 1945 – wie viele Rumäniendeutsche – in die heutige Ukraine deportiert und verbrachte fünf Jahre in einem Arbeitslager. Herta Müller studierte von 1973 bis 1976 deutsche und rumänische Literatur an der Universität von Timişoara (Temeswar) und stand in dieser Zeit der Aktionsgruppe Banat nahe, einem Kreis junger deutschsprachiger Autor*innen, die in der neo­stalinistischen Diktatur Nicolae Ceauşescus für Meinungs­freiheit eintraten. Deshalb wurde sie von der „Securitate“ – 1948 bis 1990 war das der rumänische Nachrichten­dienst und gleichzeitig die Geheim­polizei – bedroht und schikaniert. Ihr Debut, die Prosa­sammlung Niederungen, das vom Leben der Schwaben in einem Banater Dorf erzählt, konnte jahrelang nicht erscheinen. Erst 1982 erschien in Bukarest eine zensierte Fassung. Der West-Berliner Rotbuch-Verlag veröffentlichte dann 1984 die vollständige Fassung.

In ihren poetologischen Essays Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991) erläutert Herta Müller ihre Schreibweise: „Ich merke es an den Texten anderer Autoren, ich fühle es aus den Büchern. Das, was mich einkreist, seine Wege geht beim Lesen, ist das, was zwischen den Sätzen fällt und aufschlägt, oder kein Geräusch macht. Es ist das Ausgelassene.“ Aus den Auslassungen ergibt sich der Takt des Beschriebenen – in Niederungen stehen oft kurze, einfache Sätze hintereinander. Die beschriebenen sozialen Verhältnisse und Situationen können bei den Lesenden je nach ihrem individuellen Lebens­zusammenhang unterschiedliche Assoziationen und Gefühle auslösen, doch die Spannung zwischen den Sätzen und den handelnden Personen dürften alle verspüren. Aus der Reihe der Banater Schwaben kam viel Kritik daran, wie Herta Müller ihre Landsleute in Niederungen beschrieb – schonungslos. Aber sie erntete auch Lob für den Mut, Uneinigkeit zu benennen – die Voraus­setzung dafür, Gräben zu überwinden.

Herta Müller verließ 1987 die Sozialistische Republik Rumänien, in der seit 1965 und noch bis 1989 Ceaușescu herrschte, indem sie in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. In ihrer schriftstellerischen Arbeit setzt sie sich intensiv damit auseinander, welche Gewalt Diktaturen kontinuierlich ausüben, indem sie Freiheiten einschränken oder nehmen, die Würde von Menschen verletzen und sie traumatisieren. Darüber hinaus kritisiert sie deutlich die Macht­verhältnisse innerhalb von Familien und ethnischen Gruppen.

Den Konzepten „Verständigung“ und „Toleranz“ kommt in einer Demokratie eine immense Bedeutung zu: Es geht um Vielfalt als Grundwert, um Anerkennung und Respekt, um gegenseitiges Verstehen und das Aushalten anderer Überzeugungen, um das Miteinander-Sprechen und das Miteinander-Leben. Was Herta Müller auszeichnet, ist eine klare Haltung zu diesen Werten, ihre Auffassung, dass die Begriffe stets und ausschließlich im jeweiligen konkreten Kontext betrachtet werden müssten, in dem sie sich zu bewähren haben. Sie misst das Gewicht von Wort und Tat sehr genau.

Am 5. Februar 2022 sagte Herta Müller im Interview mit dem Nachrichten­magazin Der Spiegel: „In der Diktatur wird die Literatur politisiert von der Realität. Wenn man die Dinge genau beobachtet und beschreibt, schafft man Abstand von ihnen, und das kann helfen, sogar retten.“

In Müllers 2009 erschienenem Roman Atemschaukel singen die Frauen auf dem Transport ins Arbeitslager im Viehwaggon ein Lied: „Immer dasselbe getragene Lied, bis man nicht mehr wusste, ob wirklich gesungen wird oder nicht, weil die Luft sang. Das Lied schwappte einem im Kopf und passte sich ans Fahren an – ein Viehwaggonblues und Kilometerlied der in Gang gesetzten Zeit. Es wurde das allerlängste Lied in meinem Leben, fünf Jahre lang haben die Frauen es gesungen und es so heimwehkrank gemacht wie wir alle waren.“ Die Metaphorik schafft Abstand – und gleichzeitig gehen Herta Müllers Sprachbilder einem unter die Haut. Herta Müllers Texte sind oft eine Zumutung, der man sich stellen muss oder auch will, und sie sind in allem ein Ringen um eine schonungs­lose Suche nach der Wahrheit, soweit wir sie aus den Fakten ableiten können und auf der unsere Verständigung basieren kann. In diesem Sinne ehren das Jüdische Museum Berlin und der Freundeskreis des Museums Herta Müller mit dem Preis für Verständigung und Toleranz.

Preisträger Barrie Kosky

2012 tritt Barrie Kosky die Intendanz der Komischen Oper Berlin an – und in den folgenden zehn Jahre bringt er jüdische Kultur wieder auf die Bühne. 2013 wählt die Fach­zeitschrift opernwelt das Haus zum Opernhaus des Jahres, 2015 werden die Chorsolisten Opernchor des Jahres und das Ensemble gewinnt den International Opera Award, 2016 wird Barrie Kosky Regiss€ des Jahres. Das Fachpublikum und die übrigen Theater­besucher*innen feiern Barrie Koskys in diesem Jahr beendete zehnjährige Intendanz, sein Ruhm ist international – The New York Times stellt ihn vor als “the Australian-born director who has become an essential figure of the Berlin, not to mention European, opera scene”. Im Sommer 2022 endete seine zehnjährige Intendanz an der Komischen Oper Berlin, der er aber weiterhin als Hausregiss€ verbunden bleibt.

Barrie Kosky wurde 1967 in Melbourne geboren, als Enkel jüdisch-russischer, jüdisch-polnischer und jüdisch-ungarischer Einwanderer*innen. Seine aus Budapest stammende Großmutter sorgte dafür, dass er schon als Kind ein regelmäßiger Opern­gänger war. Mit 23 Jahren gründete Kosky zusammen mit Freunden in Melbourne ein jüdisches Theater und gab ihm den Namen Gilgul. Innerhalb der Kabbala, der jüdischen Mystik, ist „Gilgul“ ein Konzept der Seelenwanderung. Mit dem Gilgul-Theater wollte Kosky explizit dem multi­kulturellen australischen Publikum die Vielfalt jüdischer Positionen erklären. Seither setzt er sich in seinen Inszenierungen intensiv mit jüdischer Kultur und Identität auseinander. „Wir spielen Vollgas, es gibt keine Kompromisse“, sagte er in einer Mosse Lecture der Humboldt-Universität zu Berlin. Er selbst hat sich einmal als „schwules jüdisches Känguru“ beschrieben, seine Inszenierungen als Mischung aus Franz Kafka und The Muppet Show. 2017 nahm Kosky die deutsche Staats­bürgerschaft an.

Barrie Kosky hat vergessene Operetten jüdischer Komponisten und Librettisten, die in der Weimarer Republik populär waren und das kulturelle Leben in Berlin vor 1933 prägten, wieder auf die Spielpläne gesetzt, darunter Paul Abrahams Ball im Savoy, Oscar Strauss´ Die Perlen der Cleopatra und Jaromir Weinbergers Frühlingsstürme. An den Aufführungen waren damals auch jüdische Choreograph*innen und jüdische Sänger*innen beteiligt. Bei den Bayreuther Festspielen 2017 inszenierte er als erster jüdischer Regiss€ eine Aufführung, und zwar Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Dabei zeigte Barrie Kosky nicht nur den individuellen Antisemitismus Wagners, sondern unterstrich vielmehr den gesellschaftlich verbreiteten, aggressiven Hass, dem Juden und Jüdinnen damals – und bis in die Gegenwart hinein – begegneten und begegnen. Gleichzeitig verdeutlichte Kosky das ambivalente Verhältnis, das viele Juden und Jüdinnen zu Wagner haben: Es gab jüdische Wagner-Fans, die während des National­sozialismus nach Großbritannien oder Palästina flohen und ihre Platten­sammlungen mitnahmen – das belegen einzelne Objekte in der neuen Dauer­ausstellung des JMB.

Barrie Kosky ist eine herausragende Künstler­persönlichkeit und steht mit seiner Arbeit wie als Person für deutsch-jüdische Gegenwarts­kultur und für deutsch-jüdisches Leben in Berlin, auch wenn er in den Interviews, die sein Judentum thematisieren, stets betont, dass er nur für sich spricht. Er eröffnete dem Publikum den Zugang zu einem weitgehend vergessenen Bereich jüdischer Kultur. Barrie Kosky´s All Singing, All Dancing Yiddish Revue auf Jiddisch, Englisch und Deutsch bildete einen fulminanten Abschluss seiner zehnjährigen Intendanz an der Komischen Oper Berlin. The New York Times schrieb dazu enthusiastisch: “Under Kosky — a showman through and through, who operates with a young idealist’s belief in the power of theater and a brazen disregard for divisions between so-called high and low art — the Komische Oper has been the kind of place where you could see Schoenberg’s ‘Moses und Aron’ one night and Mozart the next, followed by a Broadway musical, a Weimar-era operetta and, for good measure, something Baroque.” Barrie Kosky ist es gelungen, die Komische Oper Berlin zu einem Ort für alle zu entwickeln – er hat die Auslastung des Hauses von unter 70 Prozent auf über 90 Prozent gesteigert – und die Leichtigkeit, mit der er Akzente setzt, tiefsinnig und unterhaltsam zugleich inszeniert, schwierigen Themen nicht ausweicht und dennoch das Leben feiert, sucht seines­gleichen.

Dass er offen ist für Gespräche, das ist ein Merkmal seiner Person. Verständigung und Toleranz, das sind Werte, die er lebt. Er bringt den Künstler*innen, mit denen er zusammen­arbeitet, großes Vertrauen entgegen, lässt ihnen ihren Raum und fühlt sich als „Mama der Kompanie“, wie er in einem Interview mit der Tageszeitung Der Tagesspiegel sagte. Oft provoziert er mit zuge­spitzten Sätzen, aber es geht ihm im Gespräch immer um Argumente. Er weicht dem Gespräch nicht aus, duckt sich nicht weg, sondern stellt sich den Diskussionen – stets auf der Suche nach der Wahrheit hier und heute. Morgen muss sie erneut gesucht werden, so wie der Talmud stets neu interpretiert werden muss. In diesem Sinne zeichnet das Jüdische Museum Berlin gemeinsamen mit dem Freundeskreis des Museums Barrie Kosky als eine der wichtigsten Stimmen jüdischer Gegenwart aus.

Die Preisträger 2002 bis 2021

Mit dem Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin wurden bereits ausge­zeichnet: Berthold Beitz, Vorsitzender des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, und Heinrich von Pierer, ehemaliger Vorstands­vorsitzender der Siemens AG (2002), der Bundes­innenminister a. D. Otto Schily und die Verlegerin Friede Springer (2003), der Unternehmer Michael Otto und Bundes­präsident a. D. Johannes Rau (2004), der Sammler und Mäzen Heinz Berggruen und der Politiker Otto Graf Lambsdorff (2005), der General­musikdirektor der Staatsoper Berlin Daniel Barenboim und der BMW-Manager Helmut Panke (2006), der Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl und der Historiker Fritz Stern (2007), der Unternehmens­berater Roland Berger und der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész (2008), Franz Fehrenbach, Vorsitzender der Geschäfts­führung Robert Bosch GmbH und Christof Bosch, Sprecher der Familie und Mitglied des Kuratoriums Robert Bosch Stiftung GmbH – beide als Vertreter des Hauses Bosch – und der Filmregiss€ Michael Verhoeven (2009), der Literatur­wissenschaftler Jan Philipp Reemtsma und der Wirtschafts­manager Hubertus Erlen (2010), Bundeskanzlerin Angela Merkel (2011), Klaus Mangold, Vorsitzender des Aufsichtsrates Rothschild, Frankfurt und Moskau, und Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker (2012), Berthold Leibinger, Gesellschafter TRUMPF GmbH + Co. KG, Ditzingen, und Schauspielerin Iris Berben (2013), Verleger Hubert Burda und Bundesminister der Finanzen Wolfgang Schäuble, MdB (2014), W. Michael Blumenthal, Gründungs­direktor des Jüdischen Museums Berlin (2015), die Zeitzeuginnen Renate Lasker Harpprecht und Anita Lasker Wallfisch sowie der Unternehmer Hasso Plattner (2016) Joe Kaeser, Vorsitzender des Vorstands der Siemens AG und Joachim Gauck, Bundespräsident a.D. (2017), Unternehmerin Susanne Klatten und der Schriftsteller David Grossman (2018), Bundes­außenminister Heiko Maas und Künstler Anselm Kiefer (2019), die ehemalige US-amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und der Pianist Igor Levit (2020), die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch und der Architekt Daniel Libeskind (2021).

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