„Zu dieser Zeit sah ich Gepeinigte vor ihren Peinigern stehn.“
Auschwitz/Majdanek vor Gericht: über die beiden größten deutschen Prozesse gegen das Personal von Konzentrations- und Vernichtungslagern
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von Dezember 1963 bis August 1965 stattfand, gilt als Wendepunkt im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik. Der Majdanek-Prozess vom 26. November 1975 bis zum 30. Juni 1981 am Düsseldorfer Landgericht ist das längste Gerichtsverfahren der deutschen Rechtsgeschichte und hinterließ, auch wegen des Missverhältnisses von Taten und Strafen, nachhaltige Verstörung.
Der Auschwitz-Prozess
Am 20. Dezember 1963 wurde im Plenarsaal des Frankfurter Römers die bis dato größte und längste bundesdeutsche Gerichtsverhandlung über die Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern eröffnet. Vor Gericht standen 22 ehemalige Angehörige der Lagermannschaft, die zwischen 1941 und 1945 im KZ Auschwitz gearbeitet hatten. Der ranghöchste Angeklagte und letzte Kommandant des Lagers Richard Baer war unmittelbar vor Beginn des Prozesses verstorben; gegen viele andere Personen wurde gar nicht erst Anklage erhoben – nicht zuletzt, weil fast alle Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus, wie etwa Totschlag, bereits als verjährt galten.
Der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer; Schindler‐Foto‐Report
Da die bundesdeutsche Gesetzgebung die juristische Grundlage der alliierten Nachkriegsprozesse nicht in bundesdeutsches Recht überführt hatte, musste sich das Verfahren in Frankfurt am Main – ebenso wie die darauf folgenden NS-Prozesse – auf das Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1871 berufen. Dies hatte zur Folge, dass sich die Anklage auf Mord und Beihilfe zum Mord beschränkte und das Gericht unter Leitung des Vorsitzenden Richters Hans Hofmeyer abschließend beurteilen musste, ob die Angeklagten persönlich an Mordtaten beteiligt waren und damit gegen geltendes Recht verstoßen hatten.
Das Strafverfahren mit dem Aktenzeichen 4 KS 2/63, das im so genannten Auschwitz-Prozess mündete, war von dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer von langer Hand geplant und vorbereitet worden. Die Gerichtsverhandlung dauerte 20 Monate, doppelt so lang, wie ursprünglich vorgesehen, und fand ein breites Medienecho. Mehr als je zuvor berichteten deutsche und internationale Medien über den systematisch geplanten Massenmord in den Lagern und über die Täter*innen, die ihn bereitwillig ausgeführt oder daran mitgewirkt hatten. Sie gingen dabei auch auf die Aussagen der 211 Auschwitz-Überlebenden im Zeugenstand ein.
Der hessische Generalstaatsanwalt und Initiator des Auschwitz-Prozesses Fritz Bauer; Fritz Bauer Institut
Der Hessische Rundfunk berichtete in der Hessenschau am 20. Dezember 1963 über den ersten Gerichtstag. In dem 13-minütigen Beitrag formulierte der ehemalige Auschwitz-Häftling Franz Unikower auf verblüffend nüchterne Weise, was die Überlebenden von dem Prozess erwarteten:
„Es ist nicht das Gefühl der Rache, das uns bei Beginn dieses lange vorbereiteten Prozesses beherrscht. Es ist für uns eine – wenn auch tragische – Genugtuung, dass nach so vielen Jahren nun in genauester Weise darüber Beweis zu erheben ist, wer und in welchem Umfange sich an schweren Straftaten im Lager Auschwitz beteiligte.“
Schätzungsweise 20.000 Gäste wohnten der Hauptverhandlung bei. Unter diesen befanden sich viele Schriftsteller*innen und Intellektuelle, wie Hannah Arendt, Inge Deutschkron, Marie Luise Kaschnitz, Henry Miller, Robert Neumann, Horst Krüger und Peter Weiss. Ihre Texte zeigen, wie erschütternd die Ausführungen der Überlebenden und die Reaktionen der Angeklagten gewesen sein müssen.
Der ehemalige Auschwitz-Häftling Franz Unikower; Bundesarchiv
Peter Weiss etwa notierte in seiner „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“ (in: Rapporte. Frankfurt/Main 1981 [1968], S. 133 f.):
„Zu dieser Zeit sah ich Gepeinigte vor ihren Peinigern stehn, letzte
Überlebende vor denen, die sie zur Tötung bestimmt hatten, […]
Namenlose auf beiden Seiten, nur Übriggebliebene
aus einer umfassenden Entwertung, nur Stammelnde, Verständnislose,
vor einem Gerichtshof, der trübe zerfließende Grausamkeiten ermittelte […].“
Der Auschwitz-Prozess gilt als Zäsur und Wendepunkt im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Er brachte einen Prozess in Gang, der viel bedeutsamer war als das Gerichtsverfahren selbst: den Prozess der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland.
Memorandum. Ein Beitrag zum Frankfurter Auschwitz-Prozess
Eine Sequenz des Films Memorandum von Donald Brittain und John Spotton zeigt, wie die Angeklagten des Auschwitz-Prozesses nacheinander aus einem Polizeiwagen steigen, um das Gerichtsgebäude zu betreten. Einige halten sich ihre ledernen Aktentaschen vor das Gesicht, andere verdecken die Augen mit der Hand. Victor Capesius, der Apotheker von Auschwitz, blickt unverhohlen in die Kamera. Wir sehen ihm direkt in die Augen. Einem Mann, der seinem früheren jüdischen Kollegen bei der Ankunft in Auschwitz versicherte, seine Frau und seine kleinen Töchter gingen nur baden. Und dann steigt Wilhelm Boger aus dem Wagen. Er war in Auschwitz für die politischen Verhöre zuständig, sprich: Er hat gefoltert – oft bis zum Tod. Mit seiner Tasche schlägt er auf die Kamera. Die Polizisten stehen unschlüssig daneben.
Der Prozess erfuhr weltweit mediale Aufmerksamkeit. Die Macher dieses Films kamen aus Kanada, um diese Szene einzufangen. Mit der Kamera reisten sie quer durch Deutschland mit der Frage, warum der Holocaust ausgerechnet in diesem Land initiiert wurde. Wenn Sie wissen möchten, welche Antworten die beiden Kanadier fanden, schauen Sie sich diesen beeindruckenden Film ganz an:
Memorandum von Donald Brittain und John Spotton; National Film Board of Canada
Der Film war jahrelang in Ausschnitten in unserer Dauerausstellung zu sehen. Wir beobachteten, dass unsere Besucher*innen diesen Filmausschnitt sehr viel intensiver wahrnahmen als die Fotos, Audios und Dokumente zur juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen.
Veränderter öffentlicher Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland
In der zeitgenössischen internationalen Fernsehberichterstattung über diesen Prozess kommen bahnbrechende Fragen zum Umgang mit der NS-Zeit zum Ausdruck. Der FAZ-Journalist Bernd Naumann, der den Auschwitz-Prozess kontinuierlich verfolgte, beschrieb das Gerichtsverfahren im niederländischen Fernsehen wie folgt:
„Wie die Vergangenheit noch einmal aufgestanden ist vor uns, das hat den, der nicht ganz aus Stein ist, wohl verändert. (…) Diese tödliche Maschinerie, diese Vollendung, mit der [der Mord] betrieben worden ist. (…) Das ist bisher so deutlich nicht geworden wie in diesem Auschwitz-Prozess.“
„Mein Mann war zwar sehr genau, aber (…) das kann ich mir alles nicht vorstellen“, sagte die Ehefrau des Auschwitz-Täters Wilhelm Boger den NDR-Reportern; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Alexander Zuckrow
In einer Sendung des Hessischen Rundfunks mit dem ganz nach 1960er-Jahre klingenden Namen Heute Abend Kellerklub beschreibt Fritz Bauer einem jugendlichen Publikum, was er den Angeklagten des Auschwitz-Prozesses im Grunde vorwirft: dass sie nicht in der Lage waren, Nein zu sagen. Bauer sah im Auschwitz-Prozess die Chance, die Öffentlichkeit – und insbesondere die junge Generation – über die NS-Zeit aufzuklären.
Von 2013 bis 2017 zeigten wir in unserer Dauerausstellung 18 Sequenzen aus kanadischen, niederländischen und westdeutschen Produktionen, die in einer raumgreifenden, 30-minütigen Installation an drei Monitoren ausgespielt wurden. Den Auftakt zu dieser Installation bildete ein zweiminütiger Ausschnitt aus dem legendären Fernsehinterview von Günter Gaus mit Hannah Arendt, in dem diese sagt: „Da ist irgendetwas passiert, mit dem wir alle nicht mehr fertig werden.“ Das Interview ist in voller Länge auf YouTube zu sehen:
Die schwarz glänzenden Monitorkuben in der früheren Dauerausstellung gestalteten Holzer Kobler Architekturen GmbH. Die Konzeption und Realisierung der Videoinstallation übernahm das Studio TheGreenEyl; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Alexander Zuckrow
Fernsehinterview von Günter Gaus mit Hannah Arendt
Die Fernsehbeiträge sind selbst Zeitzeugnisse und veranschaulichen, wie der Auschwitz-Prozess und seine mediale Rezeption eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit anstieß, die bis heute andauert.
Der Majdanek-Prozess
In unserer Sammlung befinden sich 44 Porträts der Gemäldeserie von Minka Hauschild mit dem Titel Majdanek Prozessportraits (zum Sammeldatensatz in unseren digitalisierten Beständen). Die Serie, die in unserer alten Dauerausstellung zu sehen war, zeigt Beteiligte des Majdanek-Prozesses, der vom 26. November 1975 bis zum 30. Juni 1981 am Düsseldorfer Landgericht stattfand.
Steht man vor den Porträts, stellt sich unwillkürlich die Frage: „Wer ist hier wer?“ Ob es sich um einen ehemaligen Häftling oder SS-Mann handelt, beantworten die Gemälde selbst nicht. Einige Porträts wirken realistisch, bei anderen scheinen die Gesichter verzerrt oder sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Die Menschen auf ihnen wirken alle, als hätten sie in gewisser Weise Schaden genommen. Die Porträts haben etwas zutiefst Verstörendes.
Bereich zum Majdanek-Prozess in der alten Dauerausstellung; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Alexander Zuckrow
Ob ein Bild den Richter, einen Verteidiger, einen Zeugen oder Angeklagten darstellt, erfuhren die Besucher*innen unserer alten Dauerausstellung durch Tablets, in denen nicht nur die Rolle geschildert wurde, die die Personen im Majdanek-Prozess innehatten. Man erhielt auch einen kurzen Einblick in ihre Biografie und – wenn die Quellen es ermöglichen – in ihre Wahrnehmung des Gerichtsverfahrens.
Der Majdanek-Prozess wurde von Zeitgenossen immer wieder als „monströs“ bezeichnet. Auf der Anklagebank saßen 16 ehemalige Angehörige des Wachpersonals, darunter sechs Frauen. Im Jahr 1979 wurden vier Angeklagte freigesprochen, weil ihnen nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie persönlich an Morden beteiligt waren. Auch die abschließenden Urteile 1981 fielen milde aus. Nur bei der Angeklagten Hermine Braunsteiner-Ryan erkannte das Gericht einen eigenen Täterinnenwillen und verurteilte sie wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft. Mehrere Zeuginnen hatten ausgesagt, dass sie Kleinkinder und Säuglinge auf Lastwagen gezerrt oder geworfen hatte, die sie zu ihrer Ermordung in die Gaskammern brachten.
Widerhall in Medien und Kunst
Der Gemäldezyklus von Minka Hauschild spiegelt den langen Widerhall des Gerichtsverfahrens in den Medien, der Gesellschaft und in der Kunst. Er entstand zwanzig Jahre nach Prozessbeginn, in den Jahren 1995 und 1996. Inspiriert hatte die Künstlerin dabei vor allem der Dokumentarfilm Der Prozess. Die viereinhalbstündige Dokumentation war 1984 erstmals im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen und wurde von einem Millionenpublikum rezipiert. Sie basiert auf Gesprächen mit etlichen Prozessbeteiligten und montiert deren gegenläufige Perspektiven auf den Prozess zu einer fesselnden Interviewcollage. Die Malerin war von den Kamerabildern der Gesichter der Angeklagten, Zeug*innen, Juristen und Prozessbeobachter so fasziniert, dass sie sie von ihrem Fernseher abfotografierte und die Fotos ihren Ölporträts zugrunde legte.
Schwere Taten, milde Urteile
Der Majdanek-Prozess ist das längste Gerichtsverfahren der deutschen Rechtsgeschichte. Das Missverhältnis zwischen den Urteilen, die gefällt, und den Taten, die im Prozess geschildert wurden, veranschaulicht, dass es der bundesdeutschen Justiz nicht gelang, einen angemessenen Umgang mit den NS-Verbrechen zu finden. Die Majdanek Prozessportraits zeigen, dass dieses Gerichtsverfahren (wie der Auschwitz-Prozess) noch viele Jahre nach dem Richterspruch nachwirkt.
Monika Flores Martínez, Dauerausstellung, und Mirjam Wenzel, Medien
Zitierempfehlung:
Monika Flores Martínez/Mirjam Wenzel (2012/2013), „Zu dieser Zeit sah ich Gepeinigte vor ihren Peinigern stehn.“. Auschwitz/Majdanek vor Gericht: über die beiden größten deutschen Prozesse gegen das Personal von Konzentrations- und Vernichtungslagern.
URL: www.jmberlin.de/node/10835