„Sex ist eine Kraft“
Interview mit Talli Rosenbaum
Talli Yehuda Rosenbaum ist Einzel- und Paartherapeutin sowie zertifizierte Sexualtherapeutin und Supervisorin. Ihre Forschung befasst sich sowohl mit den psychosozialen und kulturellen Aspekten von Sexualität und Beziehungen als auch mit der Schnittstelle von Trauma, Intimität und Sexualität. Im Podcast Intimate Judaism erkundet sie zusammen mit dem Rabbiner Scott Kahn ein breites Spektrum an Fragen rund um gelebte Sexualität im Einklang mit Tora und Halacha.
Talli Rosenbaum, Sie sind ausgebildete Sexual- und Beziehungstherapeutin und begleiten praktizierende Jüdinnen und Juden, die in ihrem Alltag die religiösen Gesetze in unterschiedlichem Maße befolgen. Wie, würden Sie sagen, wirken sich diese Gesetze auf das Sexualleben und die Gefühlswelt aus?
Wer in sehr orthodoxen Gemeinschaften aufwächst, lebt lange in einer nahezu sexfreien Welt; doch mit der Hochzeitsnacht wird von jungen Paaren erwartet, dass sie sexuell aktiv werden. Paare, die Schwierigkeiten haben, ihre Ehe in der Hochzeitsnacht oder danach zu vollziehen, suchen möglicherweise eine Sexualberatung auf. In meinem beruflichen Alltag, in dem ich sowohl mit frisch verheirateten Frauen als auch mit Paaren arbeite, begegnet mir immer wieder sehr, sehr große Angst – Angst der oder des Einzelnen, Angst in der Familie, gesellschaftlich geprägte Angst – vor der Idee, dass der Geschlechtsakt vollzogen werden muss. Was mir wirklich zu Herzen geht, sind die Erfahrungen von Frauen, denen Sex Schmerzen bereitet oder die an Vaginismus leiden, bei dem sich der Körper aus Angst vor dem Geschlechtsverkehr verkrampft. Teil der Behandlung ist dann, dass die Betroffenen mit Vaginaldilatoren üben. In meinem vorherigen Beruf als Beckenboden-Physiotherapeutin hatte ich mit Frauen zu tun, die traumatisiert waren und die dissoziierten, also sich von ihren eigenen Empfindungen abkapselten. Sie sagten dann Dinge wie: „Ich muss in der Lage sein, Sex zu haben. Ich muss dazu einfach in der Lage sein, aber es tut mir weh, und es muss aufhören, wehzutun. Also tun Sie, was Sie tun müssen, ignorieren Sie mich einfach. Ich muss keine Lust empfinden, ich will einfach nur, dass es nicht wehtut, damit ich meiner Pflicht nachkommen kann.“ Klar war: Sie fürchteten die Auswirkungen, wenn sie ihrer ehelichen Pflicht nicht nachkämen. Wegen dieser Erfahrungen habe ich mich dann dem Bereich der psychischen Gesundheit zugewandt.
Welche Gemeinschaften oder Einzelpersonen betreuen Sie?
Ich würde sagen, dass die große Mehrheit – wahrscheinlich 95 Prozent – der Einzelpersonen und der Paare, mit denen ich arbeite, der orthodoxen Welt angehören. Das reicht von Angehörigen der offenen Orthodoxie über Reformierte bis hin zu sehr, sehr orthodoxen Charedim und Chassidim.
Der Titel unserer Ausstellung lautet: Sex. Jüdische Positionen. Wenn Sie jüdische Werte in zentrale Positionen oder ethische Grundsätze fassen müssten, welche wären das?
Das ist eine sehr weitreichende Frage! Ich denke, wir müssen uns zunächst ansehen, welche Bedeutung Sexualität im Judentum hat – meines Erachtens gibt es da nicht nur eine einzige, monolithische Position. Der Talmud ist voll von Geschichten über Tannaim und Amoraim, die mit sexueller Versuchung und Begierde konfrontiert wurden. In den jüdischen Texten wird Sex als Versuchung oder Kraft präsentiert, als ein Jezer, dem man entgegentreten und den man regulieren muss.
Was die Haltung des Judentums zur Sexualität betrifft, so gibt es mehr als einen Standpunkt. Einige rabbinische Quellen versuchen, den lustvollen Aspekt von Sex herunterzuspielen, und präsentieren Askese als eine Art Vorbild. Manche Texte thematisieren Sexualität kaum, andere sind diesbezüglich sehr technisch. Dann wieder gibt es Quellen, die ihre Wurzeln im mystischen Judentum haben: Sie verherrlichen die sexuelle Lust und deren Befriedigung in der Ehe und betrachten Sex als göttliches Geschenk und heilige Pflicht.
Und dann gibt es die Haltung von Maimonides, auch Rambam genannt, die näher am Alltag der Menschen und ausgewogener ist. Sex wird weder verherrlicht noch verteufelt, vielmehr erkennt dieser Ansatz an, dass Jüdinnen und Juden genau wie alle anderen Menschen Sex haben und dass Geschlechtsverkehr in der Ehe sowohl der eigenen Lust als auch der Fortpflanzung dient.
Insgesamt gilt Sex im Judentum als eine gute Sache, solange er zwischen Mann und Frau und im ehelichen Rahmen stattfindet. Bei den Beschränkungen und Verboten bezüglich Sex geht es also weniger um die Tatsache, dass es zu sexuellen Handlungen kommt, als um den Kontext, in dem dies geschieht. Was die Ethik betrifft, so enthalten die alten Texte sexuelle Vorschriften, die mit der Ethik, der Moral und den Werten der damaligen Zeit übereinstimmen. Doch im Gegensatz zur Tora ist eine Gesellschaft nicht festgeschrieben. Deshalb müssen wir als Jüdinnen und Juden gegenüber aktuellen Wertvorstellungen offenbleiben, um sie annehmen und mit den Werten der Tora in Übereinstimmung bringen zu können.
Gibt es in Ihren Augen eine spezifisch jüdische Sexualität, die aus diesen Werten hervorgegangen ist, sei es aufgrund halachischer Schriften oder kultureller Normen?
Die Antwort auf diese Frage kann in ganz unterschiedliche Richtungen führen! Ich glaube, dass die Geschichten des Talmud, in denen es um Versuchung und Lust geht, uns tatsächlich etwas lehren, indem sie zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Sexualität und mit der sexuellen Entwicklung des Menschen einfach zum Menschsein dazugehört. Das ist ein Teil des Lebens. Die Vorstellung von einem sehr beherrschten sexuellen Selbst, das nur Dinge tut, die nach der Halacha erlaubt sind, gilt vermutlich als Ideal. Doch die talmudischen Geschichten zeigen uns auch, dass dies ein ständiger Kampf ist und auch ein ständiger Kampf sein soll. Wenn wir beispielsweise davon ausgehen, dass Selbstbefriedigung – die der Halacha zufolge verboten ist – zur Entwicklung eines Menschen dazugehört, werden wir feststellen, dass es sogar im Rahmen des gesetzestreuen Judentums zu einem existenziellen Konflikt kommt. Und der kann sich auf den individuellen Menschen sehr unterschiedlich auswirken.
Ich kann nicht pauschal sagen, welche Schwierigkeiten junge Männer und Frauen durchmachen. Doch für einige junge Männer könnte solch ein innerer Konflikt ein Grund sein, sich vom orthodoxen Judentum zu entfernen. Nach dem Motto: Wenn es ein Gesetz gibt, das ich nicht einhalten kann, dann ist die ganze Angelegenheit vielleicht nichts für mich. Andere gehen so damit um, dass sie ihre sexuelle Seite gewissermaßen von sich abspalten. Doch die Folge davon ist Scham, und dann müssen sie die verarbeiten und bewältigen. Mit gesundem Verstand für die eigene Entwicklung gelingt es vielleicht auch besser, Dinge für sich selbst anzunehmen, die man bedenklich findet. Ich könnte beispielsweise anerkennen, dass ich das Gesetz nicht immer zu 100 Prozent einhalten kann, so wie ich auch die Gesetze, meine Zunge zu hüten und nicht zu tratschen oder zu lästern – die Laschon ha-ra – nicht zu 100 Prozent einhalte. Indem ich mir zugestehe, dass es mir schwerfällt, vergebe ich mir gleichzeitig das innere Ringen. Ein Teil der therapeutischen Arbeit bestünde also darin, diese Verhältnisse zu ergründen und zu betrachten, wie sie sich auf das eigene Empfinden auswirken.
Sie sind Co-Moderatorin des Podcasts Intimate Judaism und haben viel über die Berührungspunkte von Sexualität und Halacha geschrieben, wenn es um heutige Fragen und Probleme, veränderte Einstellungen zu mentaler Gesundheit sowie emotionales Wohlbefinden geht. Haben Sie in den letzten Jahren irgendwelche Veränderungen beobachten können? Es gibt beispielsweise zahlreiche religiöse Gesetze, deren Einhaltung für orthodoxe Menschen, die feministische Auffassungen vertreten oder sehr spät heiraten, schwierig sein kann.
Auf jeden Fall! Und doch haben wir noch einen weiten Weg vor uns, wenn es darum geht, Sexualerziehung, heutige Werte und Moralvorstellungen mit den Lehren von Tora und Halacha in Einklang zu bringen. Nehmen wir zum Beispiel Einvernehmlichkeit: Einvernehmlichkeit ist ein wichtiges Konzept, wenn es um Sexualität geht, aber in den Quellen wird kaum direkt angesprochen, dass die Zustimmung beider Partner*innen unerlässlich ist. Als ich auf diesen Punkt hinwies, hieß es, dass die Zustimmung beider in den Quellen impliziert ist, aber meiner Meinung nach müsste deutlich mehr darüber gesprochen werden. Wenn in den Quellen von Sex die Rede ist, suggeriert die Wortwahl, dass der Mann mit seiner Frau machen kann, was er will – solange er keinen Samen verschwendet. Aber nirgendwo steht deutlich geschrieben: sofern sie es zulässt, sofern sie es will, sofern sie Lust hat. Es ist wichtig, dies in die Sexualerziehung einzubeziehen, auch dann, wenn wir über Werte sprechen. Wenn orthodoxe Jugendliche zum Beispiel die Gesetze der Schmirat negia kennenlernen – die besagen, dass jede Art von vorehelicher Berührung verboten ist – und ansonsten überhaupt nicht über Einverständnis, Grenzen, Verlangen oder Lust gesprochen wird, was dann? Ist dann nach der Hochzeit alles erlaubt? Und wie wird mit Zustimmung und Grenzen umgegangen, wenn Schmirat negia nicht eingehalten wird?
Glücklicherweise wird die Auseinandersetzung mit dem Thema Sex in orthodoxen Kreisen heutzutage offener geführt als früher. Ich war 2007 an der ersten veröffentlichten Studie beteiligt, die die Sexualität und Erfahrungen verheirateter orthodoxer Frauen untersucht hat. Sie umfasste knapp 400 Frauen, denen wir viele Fragen zu ihrer Sexualität und ihrem Sexualleben stellten.1 Wir befragten sie auch zu Dingen, die sie vor ihrer Hochzeit gern gewusst hätten. Diese Frauen gaben an, dass sie nicht einmal Grundlegendes über sexuelle Lust, über ihre eigenen Körper oder darüber, was in der Hochzeitsnacht geschehen sollte, erfahren hatten. Und sie hatten sicherlich nicht das Gefühl, ein Recht auf Zustimmung zu haben.
Wenn ich mir die Sexualerziehung von vorehelichen Ausbilderinnen in modernen orthodoxen Gemeinschaften anschaue, stelle ich fest, dass Zustimmung und Einvernehmlichkeit heute eine größere Rolle spielen. Das Eden Center in Israel bietet traumasensible Kurse für voreheliche Ausbilderinnen an. Weibliche halachische Beraterinnen auf diesem Gebiet, die Joazot halacha, berichten, dass ihnen immer wieder Fragen gestellt werden wie: „Was ist, wenn ich in meiner Hochzeitsnacht oder in der Mikwe-Nacht keinen Sex haben möchte?“ Es gibt inzwischen mehr Informationsmaterial, mehr Bücher und mehr Blogbeiträge. In Facebook-Gruppen oder durch Instagram-Influencer*innen wird in den sozialen Medien viel mehr über Sex und Intimität in der orthodoxen Welt gesprochen. Ich halte das alles für einen sehr, sehr positiven Schritt nach vorn.
Gemeinsam mit dem erfahrenen orthodoxen Sexualtherapeuten Dr. David Ribner habe ich das Buch I Am for My Beloved. A Guide to Enhanced Intimacy For Married Couples2 veröffentlicht. Das Buch richtet sich zwar speziell an orthodoxe Paare, enthält aber auch Bilder von Genitalien und ihrer Anatomie. Außerdem abgebildet sind verschiedenen Stellungen beim Sex; diese Praktiken werden ebenso besprochen wie Pornografie und Untreue. Ich glaube, dieses Buch ist wirklich einer der ersten Ratgeber zu Intimität und Sexualität für orthodoxe Menschen.
Absolut! Sie haben eben von vorehelichen Unterweisungen gesprochen: Welche Rolle spielen denn die Chatan- und Kallah-Lehrerinnen bei all dem?
Viele junge orthodoxe Menschen, vor allem in den sehr orthodoxen Gemeinden, sprechen zum ersten Mal offiziell über Sex, wenn sie sich auf die Ehe vorbereiten. Die Art und Weise, wie diese Aufklärung vonstattengeht, ist sehr unterschiedlich, es gibt keine einheitlichen Vorgaben oder Standards. Ein positives Beispiel ist in meinen Augen das schon erwähnte Eden Center, eine Organisation, die von Dr. Naomi Marmon Grumet gegründet wurde. Sie hat in Israel sehr viel dafür getan, Frauen besser auf die Ehe vorzubereiten. Indem am Eden Center intensive Schulungen für Ausbilderinnen zum Thema Sexualität angeboten werden, können diese ihr Wissen an junge Frauen weitergeben und sie damit richtig und angemessen informieren. Zudem hat sie untersucht, welche gesellschaftlichen Botschaften junge Männer und Frauen in modern-orthodoxen oder zionistisch-orthodoxen Gemeinden zum Thema Sex empfangen. Sie fand heraus, dass Sexualität in der Entwicklung junger Frauen kaum Platz eingeräumt wird: Sexualität bedeutet im Wesentlichen, sich sittsam zu kleiden und zu verhalten, um bei Männern kein Begehren zu wecken.
Bei jungen Männern ist das anders. Sexualität wird anerkannt und sexuelle Gedanken und Gefühle werden bestätigt. Einem jungen Mann wird gesagt: „Wir wissen, dass du damit zu kämpfen hast. Aber wenn du heiratest, gibt es jemanden, mit dem du deine sexuellen Bedürfnisse ausleben kannst.“ Und diese Botschaft, so wahr sie vielleicht klingt, kann mitunter großen Schaden anrichten. Sie weckt Erwartungen, sodass viele junge Männer glauben: „Meine Frau wird mich erlösen; und all die Fantasien und Wünsche, die ich bislang unterdrücken musste, kann ich nun ausleben.“ Doch wenn diese Vorstellungen nicht von Beginn an Aspekte von Gegenseitigkeit und Einverständnis beinhalten, wenn es kein Vokabular für diese Dinge gibt – wie soll ein junges Paar dann darüber vor der Hochzeit sprechen? Wie können sie herausfinden, was sich gut anfühlt, wie die jeweiligen Bedürfnisse und Bedenken artikulieren? Wie stellt man sich das gemeinsame Intimleben vor, beziehungsweise wie möchte man Intimität fortführen, wenn diese schon vor der Hochzeit bestand? Und wie möchte man als junges Paar die Einhaltung der Gesetze handhaben? Wenn es darum geht, offen über diese Fragen zu sprechen, sind die sehr Orthodoxen und die Charedim, also die stärker chassidisch ausgerichteten Gemeinschaften, noch nicht wirklich so weit. Aber da heutzutage weltliche Botschaften auch zu ihnen durchsickern, ist es nicht ungewöhnlich, dass junge charedische Frauen zu uns kommen und sagen: „Ich wollte in meiner Hochzeitsnacht keinen Sex haben. Ich kannte meinen Mann kaum. Ich bin bloß da, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.“ Ein solches Bewusstsein entstammt nicht dem gesellschaftlichen System, in dem sie aufwuchsen, sondern kommt von außen. Und in dem Maße, in dem westliche Botschaften von den Charedi aufgegriffen werden, müssen auch sie sich mit diesen Ideen gesellschaftlich auseinandersetzen. Doch auch für Männer kann der Beginn einer sexuellen Beziehung mit Ängsten behaftet sein. Männer haben oft das Gefühl, dass sie alles wissen müssten. Dass sie das Sagen haben. Und das kann für sie sehr, sehr schwierig sein.
Wie wirken sich die Gesetze zur Familiären Reinheit Ihrer Meinung nach auf die Intimität aus, sowohl für die Frau als auch für den Mann?
Uns allen wurde früher gesagt, dass taharat ha-mischpacha, die Gesetze zur Familiären Reinheit, der Weg zu einem sexuell befriedigenden Intimleben seien. Uns wurde beigebracht, dass, wenn man diese Gesetze einhält, die Beziehung frisch bleibe, denn die monatliche Erneuerung gebe einem das Gefühl, dass man sich immer wieder auf sexuelle Intimität freue. Da meine Kolleg*innen und ich bei orthodoxen Paaren jedoch häufig sexuelle Funktionsstörungen feststellten, haben wir irgendwann begonnen, diese Behauptungen zu hinterfragen. Einige Paare entscheiden sich bewusst für einen anderen Umgang mit den taharat ha-mischpacha, was sich auf ihr Sexualleben positiv auswirken kann, in dem Sinne, dass es ihnen ein Gefühl von Autonomie vermittelt. Es kann aber auch zu Konflikten führen, wenn unterschiedliche Auffassungen darüber vorliegen, wie streng die Gesetze innerhalb der Partnerschaft eingehalten werden sollen. Heutzutage sind die Unterweisungen diesbezüglich viel ehrlicher, zum Beispiel wenn den Paaren oder den Verlobten offen gesagt wird: „Es ist nicht einfach.“ Und das ist es auch nicht.
Aber die Gesetze zur Familiären Reinheit sind bloß ein Beispiel; voreheliche Berührungen, vorehelicher Sex sind andere Themen, die Paare beschäftigen können. Und dann ist da natürlich noch das Thema LGBTQ+ und die Frage, was ist, wenn die eigene sexuelle Orientierung nicht in den Quellen erwähnt wird, wenn sie nicht gebilligt wird oder die eigene Partnerschaft nicht als richtige Ehe gilt. In der Tora heiraten Männer keine Männer. Und Frauen heiraten keine Frauen. Dafür gibt es keine Vorlage, kein Beispiel. Und das löst oft eine Identitätskrise aus: Wie bringe ich meine jüdische Identität, meine halachische Identität, meine religiöse Identität mit meiner sexuellen Identität in Einklang, damit, zu wem ich mich hingezogen fühle, wen ich liebe? Das wäre ein weiteres Beispiel für Themen, die vor etwa 20 Jahren gesellschaftlich noch überhaupt nicht diskutiert wurden; heute gibt es mehrere Organisationen, die sich damit beschäftigen.
Bei LGBTQ+-Themen scheinen bestimmte Rabbiner, insbesondere innerhalb der modernen Orthodoxie, Fortschritte gemacht zu haben. Gibt es andere Bereiche, bei denen Therapie und Fragen der psychischen Gesundheit Rabbiner dazu bewegen, etwas nachsichtiger zu sein?
Ja, auf jeden Fall! Und zwar in vielen Bereichen, nicht nur bei Fragen der Sexualität. In den meisten rabbinischen Studiengängen lernen die Rabbiner heute viel über psychische Gesundheit. Im Judentum gibt es den Begriff Pikuach nefesch, der besagt, dass es Ausnahmen von den halachischen Regelungen geben muss, wenn das Leben bedroht ist. Beim Fasten gilt das zum Beispiel für Menschen, die an einer Essstörung leiden. Es wird also anerkannt, dass LGBTQ+-Personen in einen inhärenten Konflikt mit der Halacha geraten, was sich auf die psychische Gesundheit auswirkt. Um Einfühlungsvermögen zu zeigen und um Depressionen oder – Gott bewahre – Selbstmord zu verhindern, müssen die Dinge noch viel inklusiver werden. In der LGBTQ+-Welt gibt es einen großen Wunsch nach Akzeptanz, der über das bloße Berücksichtigtwerden hinausgeht: LGBTQ+ ist keine Erkrankung, und LGBTQ+-Personen wollen nicht als psychisch Kranke betrachtet werden, wenn es um ihre Identität geht. Allerdings müssen wir meines Erachtens anerkennen, dass sie, wenn sie religiös sind, wenn sie orthodox sind, wenn sie Charedim sind, Konflikte erfahren werden.
In unserem Podcast gibt es eine Episode mit Rabbi Benny Lau, der über lo tow hajot ha-adam lewado spricht – die Idee, dass „es nicht gut ist, dass der Mensch allein bleibt“. Wenn man also homosexuell ist, sollte man mit einem Mann zusammenleben. Und innerhalb der Gemeinde fragen wir nicht, was du in deinem Schlafzimmer tust, ganz gleich, ob du hetero- oder homosexuell bist. In der Tora steht nicht, dass man nicht homosexuell sein darf, sondern dort wird ein bestimmtes Verbot gegen eine bestimmte Handlung ausgesprochen. Das klingt nach einem moderneren Ansatz.
In der Ausstellung Sex. Jüdische Positionen befassen wir uns mit Tabus und Fantasien. Inwiefern sind unsere Fantasien vom jeweiligen religiösen und kulturellen Hintergrund geprägt?
Das müsste man tatsächlich mal untersuchen! In meinen Augen ist Fantasie etwas sehr Menschliches und betrifft nicht speziell das Judentum oder irgendeine Religion. Natürlich kann man nicht aus wenigen anekdotischen Erzählungen allgemeine Schlüsse ziehen, aber einige sehr orthodoxe Frauen, mit denen ich gesprochen habe, haben mir von ihren Dominanzfantasien berichtet, vor allem wenn sie sich im Alltag unterdrückt fühlten. Menschen, die aufgrund religiöser und kultureller Gepflogenheiten rund um das Thema Sex sehr gehemmt sind, haben mit dem Inhalt ihrer Fantasien zuweilen schwer zu kämpfen; die Vorstellung, dass wir unsere Sexualität kontrollieren müssen, kann geradezu erdrückend sein. Und ich glaube, es ist auch wichtig, Menschen klarzumachen, dass wir zwar Kontrolle über unser Verhalten ausüben können, aber dass unsere Sexualität auch etwas sehr Komplexes ist. Nicht jedes Begehren oder jeder Gedanke, der uns in den Sinn kommt, bedeutet zwangsläufig, dass mit uns etwas nicht stimmt oder auch nur, dass wir diese Fantasie tatsächlich ausleben wollen. Die Meinungen und Haltungen einer Gesellschaft zu Fantasien sind selten wirklich liberal. Die Idee, sich ganz auf eine*n Partner*in zu fokussieren und Dinge bewusst zu tun, ist ein wunderbares Achtsamkeitsprinzip und kann sicherlich zu unglaublichen sexuellen Erfahrungen führen. Aber im Alltag ist das schlichtweg nicht immer möglich. Und manchmal haben Menschen eben Fantasien. Sie sind Teil dessen, wie unser Gehirn funktioniert. Deshalb könnte es für viele Menschen therapeutisch hilfreich sein, wenn sie sich diese Fantasien zugestehen würden. In einer Fantasie kann man sein, wer man will, und tun, was man will, ohne dafür bestraft zu werden. Also ja, Fantasien haben definitiv einen Sinn.
Die #MeToo-Bewegung hatte ungeheure Auswirkungen auf den heutigen Kulturbetrieb und den Umgang mit Geschlecht und Gender. Hat die Debatte auch in der orthodoxen Welt etwas bewirkt?
Ja, ich glaube, #MeToo hat ziemlich viel verändert! Denn es gibt zahlreiche Frauen, die sexuelle Erfahrungen gemacht haben, für die sie sich schämen und für die sie sich selbst die Schuld geben. Teilweise ist das jedoch dem Wertekanon geschuldet, der von unserer Gesellschaft vermittelt wird: Wenn du etwas getrunken hast, auf eine bestimmte Weise gekleidet warst oder dich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten hast … und wieso warst du überhaupt noch so spät nachts mit dem Typen unterwegs? Ich glaube, die #MeToo-Bewegung hat möglicherweise dazu beigetragen, die Scham etwas zu lindern, zu heilen. Und sie hat auch geholfen zu erklären, weshalb die Betroffenen in solchen Situationen erstarren: Inzwischen suchen traumatisierte Frauen und Männer weltweit eine*n Therapeut*in auf und verstehen endlich, dass der sogenannte Freeze-Zustand der Grund dafür war, dass sie nicht geschrien und geweint haben.
Außerdem ist das Thema der Einvernehmlichkeit allmählich bei den Leuten angekommen – dass es also nicht in Ordnung ist, jemanden zu zwingen oder auszunutzen. Ich denke, in der Vergangenheit haben sich junge Frauen, die Sex hatten, gesagt: Eigentlich sollte ich so etwas nicht tun und damit gegen Schomer verstoßen – und wenn ich es doch tue, dann steht mir das Privileg oder das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung gar nicht erst zu. In meinen Augen sollten wir uns gegenseitig darin unterstützen eigene Entscheidungen treffen zu können; dann können wir auch selbst besser über Grenzen und Zustimmung entscheiden.
Eine Freundin von mir hat einmal gesagt: Bittet man Menschen in New York, die Augen zu schließen und sich eine*n Sextherapeut*in vorzustellen, dann sehen sie eine jüdische Frau. Nehmen wir Hirschfeld und Freud, Dr. Ruth und Esther Perel – kann es sein, dass sich Jüdinnen und Juden besonders stark für dieses Thema interessieren? Und wenn ja, haben Sie eine Idee, woran das liegen könnte?
Meines Erachtens ist ein wichtiger Aspekt der, dass sich Jüdinnen und Juden einfach nicht in das katholische oder puritanische Wertesystem einordnen lassen. Und dass das Judentum Sexualität positiv gegenübersteht, auch wenn Sex nur innerhalb der Ehe befürwortet wird. Aber es wird nicht das Gefühl vermittelt, dass Sex an sich falsch oder schlecht oder böse ist. Sex ist eine Kraft. Und bei den damit verbundenen jüdischen Werten geht es eher um Reglementierung und um Heiligkeit. Sex sollte lustvoll und spielerisch sein – und wichtig für die eheliche Harmonie. Das könnte einer der Gründe sein, warum das Judentum eine relativ entspannte Haltung zum Thema Sex einnimmt.
Das Interview führte die Kuratorin Joanne Rosenthal.
Alle Angebote zur Ausstellung Sex. Jüdische Positionen
- Über die Ausstellung
- Sex. Jüdische Positionen – 17. Mai bis 6. Okt 2024
- Publikationen
- Sex. Jüdische Positionen – Katalog zur Ausstellung, deutsche Ausgabe, 2024
- Sex: Jewish Positions – Katalog zur Ausstellung, englische Ausgabe, 2024
- Digitale Angebote
- Letʼs Talk About Sex – Online-Feature zur Ausstellung
- Was sagen die Künstler*innen? – Interviewreihe zur Ausstellung auf YouTube
- Soundtrack zur Ausstellung – auf Spotify
- Das Lied der Lieder. Von buchstäblicher und allegorischer Liebe – Essay von Ilana Pardes
- „Sex ist eine Kraft“ – Interview mit Talli Rosenbaum
- Androgyne Figuren in I.B. Singers literarischem Schtetl – Essay von Helena Lutz
- Jewish Places – ausstellungsbezogene, jüdische Orte auf der interaktiven Karte