Auf einem Holztisch sind zahlreiche kleine weiße Namensschilder aus Porzellan aufgereiht.

145 Porzellan­schilder – und das Foto, mit dem die Recherche nach ihrer Herkunft begann; privat

Berliner Bank­nachbarn

Eine unge­wöhnliche Spuren­suche

Wie kommt ein Eimer mit Porzellan­schildern tief unter die Erde, zwischen die Wurzeln eines Baumes im Norden von Berlin? Warum werden die Schilder dem Jüdischen Museum Berlin übergeben? Wie viele Fach­leute benötigt man, um dieses Rätsel aufzulösen? Eine unge­wöhnliche Spuren­suche.

Im Jahr 2020 stieß der Inhaber einer Garten­baufirma im Außen­bereich einer Berliner Kita auf die Reste eines Blech­eimers mit 145 Namens­schildern aus Porzellan. Er nahm sie zunächst zur Ver­wahrung an sich. Seiner Ehefrau fiel auf, dass sich auf zweien dieser Schilder der Nach­name Brasch befand, einmal Joseph und einmal Leo Brasch. Es waren Namen, die sie aus dem Kino kannte, aus einem Film über die jüdische Familie Brasch. Könnten Leo und Joseph Mit­glieder dieser Familie sein?

Das Ehe­paar wandte sich an das Jüdische Museum Berlin und bot den Fund dem Archiv an. Auf den zunächst vorge­legten Fotos war Fol­gendes zu erkennen: Abge­rundete weiße Schilder mit Löchern links und rechts, die also ursprünglich ange­schraubt waren. Namen von Perso­nen, aber auch von Firmen und Banken, waren in unterschied­lichen Schrift­typen darauf erkennbar. Die Gestal­tung der Schilder legte nahe, dass sie um 1900 herge­stellt worden waren. Der Sammlungs­bereich des JMB beschloss, heraus­zufinden, wozu die Namens­schilder dienten und woher sie stammten, bevor sie aufge­nommen werden könnten.

Die nahe­liegendste Vermutung, dass es sich um Tür­schilder aus der Nachbar­schaft der Fund­stelle handeln könnte, ließ sich anhand Berliner Adress­bücher am schnellsten prüfen: Stich­probenhaft suchten wir in jenen aus den Jahren 1900, 1913, 1923 und zogen auch das Jüdische Adress­buch von 1930 zu Rate, da nicht nur der Name Brasch, sondern auch weitere Namen auf eine potentiell jüdische Familie hindeu­teten. Die Recherche ergab, dass in keinem Jahr alle Namen gleich­zeitig zu finden waren; zudem waren die Adressen jener Firmen und Personen, die verzeich­net waren, in keinem Fall iden­tisch.

Drei weiße Porzellanschilder untereinander mit den Namen Hugo Bloch, A. Bernstein, Joseph Brasch und Leo Brasch in Kursivschrift.

Einige Namens­schilder aus dem Fund deuten auf eine potentiell jüdische Familie hin.
Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März

Waren es vielleicht Namens­schilder von Sitz­plätzen in einer Synagoge?

Die Adress­bücher brachten uns jedoch auf eine neue Fährte: Alle aufge­fundenen Perso­nen standen als „Kaufmann“ oder „Bankier“ im Adress­buch. Das ließ vermuten, dass alle eine ähnliche Tätigkeit ausübten und sie einem möglicher­weise wohlha­benden Milieu angehörten. Wurden die Schilder vielleicht in einem Verein genutzt, etwa zur Persona­lisierung eines Spinds oder Post­fachs? Einige der Namen fanden sich auf einer Mitglieder­liste des Vereins Die Gesell­schaft der Freunde wieder.1 Das half bei der Zuord­nung der übrigen Namen aber nicht weiter.




Waren es vielleicht Namens­schilder von Sitz­plätzen in einer Synagoge? Auch diese Hypo­these konnte schnell verworfen werden, denn wieso hätte etwa der Protes­tant Albert Schappach, dessen Privat­bank ebenfalls eines der Schilder ziert, einen beschil­derten Sitz in der Synagoge haben sollen? Also doch ein Verein? Die Suche nach passenden Gruppen wurde abge­brochen, weil eine Ein­grenzung unter den Hunderten Vereinen Berlins nicht möglich war. Wo also hätte man solche Schilder sonst noch an­schrauben können? Vielleicht im Theater oder in der Oper als Zeichen sogenannter Stuhl­paten­schaften, wie es sie heute noch gibt?




Ein Gespräch mit der Theater­wissenschaft­lerin Ruth Freydank, die viele Jahre im Märki­schen Museum, dem Stadt­museum Berlins, tätig war, ergab, dass zwei kulturelle Einrich­tungen mit großer bürger­schaftlicher Finan­zierung in Frage kämen: Erstens der Vorgän­gerbau der Deutschen Oper und zweitens das Schiller­theater. Das Archiv des Schiller­theaters ist jedoch verbrannt, und der Bau an sich wurde von Frau Freydank selbst bereits in seiner Tiefe erforscht – ein Hinweis auf Porzellan­schilder tauchte dort in keinem Zusammen­hang auf. Der Vorgän­gerbau der Deutschen Oper wiederum wurde im Jahr 1913 realisiert. Allerdings war etwa der Bankier Alwin Abrahamsohn, dessen Name sich auf einem der Schilder befindet, bereits 1902 verstorben; als Zeichen einer Stuhl­patenschaft in diesem Bau konnten die Schilder also nicht gedient haben.

Vier weiße Porzellanschilder untereinander mit den Namen Abrahamsohn, Aks, Schappach und Loewenherz in Kursivschrift.

Auch die Privat­bank des Protes­tanten Albert Schappach ziert eines der Schilder.
Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März

Ganz bewusst hatten die Finder Erde und Sand auf den Schildern belassen, um den Zustand beim Fund zu bewahren.

Im nächsten Schritt wurden die Schilder selbst noch einmal genau unter die Lupe genommen. Ganz bewusst hatten die Finder Erde und Sand auf den Schildern belassen, um den Zustand beim Fund zu bewahren. Das vorsichtige Säubern einzelner Schilder legte in einigen Fällen eine rückseitige Press­marke der Porzellan-Manufaktur LHA Schmidt-Berlin Moabit frei. Glücklicher­weise ist die Sammlung der Moabiter Porzellane des Märki­schen Museums online zugänglich, darunter auch Stücke aus Schmidt-Porzellan. Ebenfalls genannt ist ihr Stifter, ein Nach­fahre der Firmen­gründer, der den Namen Buschen­hagen trägt. Er antwortete auf die Anfrage im Kontakt­formular seiner Druckerei, ob er der Porzellan-Stifter sei, prompt, ja, das sei er, und schickte noch seine „Porzellan­adresse“, über die er in diesem Falle besser zu kontak­tieren sei. Herr Buschen­hagen und seine Frau waren begeistert von der Frage­stellung nach dem Zweck der Schilder und schlossen sich der Recherche an. Der Porzellan­experte kannte die vorlie­genden Schilder selbst nicht, konnte jedoch erkennen, dass es sich um eine Sonder­anfertigung handelte, so wie z.B. die Schilder im Bota­nischen Garten zur Bezeich­nung unterschied­licher Pflanzen.




Den entschei­denden Hinweis lieferte indes seine Frau: Legt die Kombi­nation aus Firmen, Bankiers und Kauf­leuten nicht nahe, dass die Schilder aus der Berliner Börse stammen? Tat­sächlich konnte der in den verschie­denen Adress­büchern angegebene Beruf Kauf­mann mit Hilfe des Handels-Registers spezifiziert werden; es zeigte sich, dass alle Namens­träger Berufen nachgingen, die an der Börse aktiv waren, darunter Getreide­händler2, wie etwa die Brüder Joseph und Leo Brasch, oder Börsen­makler. Zur Berliner Börse ist bereits geforscht worden, unter anderem von Christof Biggeleben, der sich intensiv mit der Korpo­ration der Kauf­mannschaft, also der Leitung der Börse beschäftigt hat.3

Ein schwarz-weiß Foto von einem großen neoklassizistischen Gebäude an einem Flussufer und einer Brücke, die über das Wasser führt.

Die Börse in Berlin mit der 1892/93 erweiterten Friedrichs­brücke, 1901; Landes­archiv Berlin, F Rep. 290
Nr. II3343 / Foto: Waldemar Titzenthaler

Laut dem Inhaber der Garten­baufirma und Finder weist das Wurzel­wachstum des Baums auf einen Vergrabungs­zeitpunkt vor 70 bis 80 Jahren hin – also zwischen 1940 und 1950.

Während eines Telefo­nats vermutete er, dass die Schilder die Orte markierten, an denen die Firmen bzw. Händler standen; damit lag er fast richtig. Die end­gültige Lösung schließ­lich kannte Katrin Richter, die zum Thema Die Medien der Börse4 promoviert wurde, und uns Bilder der Börse zeigen konnte: Auf mehre­ren Zeich­nungen, Gemäl­den und Fotos sind eindeutig weiße Schilder an den Sitz­bänken zu erkennen. Außer­dem kannte sie die Beschrei­bung des Publi­zisten und Reise­schriftstellers Georg Schweizer, der 1891 berichtete: „Jene Nischen zwischen den Säulen entlang den Wänden des Saals […] sind zu ganz anseh­nlichen Preisen an die großen Firmen vermiethet, und dort lassen sich deren Vertreter all­mittags nieder. Ueber­haupt gibt es keinen Platz auf den zwei­sitzigen Bänken mit der gemein­schaftlichen Mittel­lehne oder auf den Subsellien [= Sitzbänke] am Fuße der Säulen, welcher nicht für ein hübsches Sümmchen einem bestimmten Hause reserviert wäre. Die kleinen, weißen Porzellan­schilder auf beiden Seiten der Rücken­lehne tragen die Namen der Miether.“5




Doch wie geriet der Eimer mit den Porzellan­schildern unter den Baum im Garten der Berliner Kita? Laut dem Inhaber der Garten­baufirma und Finder weist das Wurzel­wachstum des Baums auf einen Vergrabungs­zeitpunkt vor 70 bis 80 Jahren hin – also zwischen 1940 und 1950. Vielleicht sind die Schilder von jeman­dem vergraben worden, der sie für bedeut­sam hielt. Vielleicht war es eine Mitar­beiterin oder ein Mitar­beiter der Berliner Börse, der sie vor den Bomben­angriffen retten wollte?




Wie dem auch sei: Heute gelten die Schilder als „herrenlose Funde“, und ihre Eigen­tümerin ist das Land Berlin, das sie dem Jüdischen Museum Berlin als Dauer­leihgaben über­lassen hat. Auch wenn es insgesamt wohl über tausend solcher Namens­schilder in der Börse gegeben hat, können wir von Glück sagen, dass zumindest ein Teil dieser materiellen Überreste der Berliner Börse die Zeiten überdauert hat und nun der histo­rischen Forschung zur Verfügung steht.




Lea Simon




Lea Simon ist seit Mai 2022 wissen­schaftliche Volon­tärin im Jüdischen Museum Berlin. Sie studierte Musik­wissenschaft und Romanistik in Heidelberg, Tours und Weimar und verteidigte ihre Dissertation zum Thema Klassische Kompo­nisten in Kibbuzim der 1930er- bis 1980er-Jahre an der Universität der Künste Berlin.




Der Beitrag erschien 2023 in der gedruckten Ausgabe des JMB Journals #25.

Zitierempfehlung:

Lea Simon (2023), Berliner Bank­nachbarn. Eine unge­wöhnliche Spuren­suche.
URL: www.jmberlin.de/node/10133


  1. Sebastian Panwitz, Die Gesellschaft der Freunde 1792–1935. Berliner Juden zwischen Aufklärung und Hochfinanz, Hildesheim: Georg Olms, 2007.↩︎
  2. Getreidehändler war deshalb passend, weil es einen Saal für den Lebensmittelhandel, die sogenannte, Produktenbörse gab. ↩︎
  3. Christof Biggeleben, Das Bollwerk des Bürgertums. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München 2006. ↩︎
  4. Katrin Richter, Die Medien der Börse. Eine Wissensgeschichte der Berliner Börse von 1860 bis 1933, Berlin 2020.↩︎
  5. Georg Schweitzer, Berliner Börse, in: M. Reymond, L. Manzel (Hg.): Berliner Pflaster. Illustrierte Schilderungen aus dem Berliner Leben, Berlin 1891, S. 324f.↩︎

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