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Zeugnis einer Familie

Tora-Schild (Tas) und Kästchen, Kitzingen, 1711/12, Ankauf 2014

Kollage aus Tora-Schild und Holzbox geschlossen und beschrifteter Deckel der Holzbox

Holzkästchen, Tora-Schild und Deckelinnenseite des Holzkästchen; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März

Der Erwerb von deutsch-jüdischen Zeremonial­objekten ist eine heikle Angelegen­heit. Nur wenige Gegen­stände werden heute in Deutschland hergestellt, und jedes Objekt, das aus der Zeit vor den 1930er-Jahren stammt, muss besonders sorgfältig geprüft werden.

Jüdische Privat­häuser und Gemeinden in Deutschland wurden während der Zeit des National­sozialismus geplündert und gebrand­schatzt, ihr Inventar wurde vernichtet oder zerstreut, sodass es sich bei Objekten, die auf dem öffentlichen Markt angeboten werden, möglicher­weise um gestohlenes Eigen­tum handelt. Nur selten können Verkäufer*innen eine ungebrochene Provenienz vorweisen.

Somit haben Käufer*innen die moralische Pflicht, den Hinter­grund des jeweiligen Stücks zu recherchieren, was in der Kürze der Zeit vor einer Auktion oft sehr schwierig ist. Wenn über das Objekt nicht schon einmal etwas ver­öffentlicht wurde, es mit einem Namen versehen ist oder andere Anhalts­punkte aufweist, ist es unglaublich schwierig, die früheren Besitzer*innen zu ermitteln. Unabhängig von dieser Frage nach der Herkunft erzielen seltene Zeremonial­gegenstände mitunter hohe Preise, und das Florieren des Spitzen­marktes hat zu einer Zunahme von Fälschungen geführt, die immer raffinierter werden.

Im hintersten Winkel eines Schranks in Toronto

Aufgrund der Ver­folgung von Jüdinnen und Juden und der Tatsache, dass die­jenigen, die in den 1930er Jahre aus Deutschland flüchteten, in den meisten Fällen keine wert­vollen Gegenstände mitnehmen konnten, stößt man nur äußerst selten, auf ein jüdisches Zeremonial­objekt, das sich seit Generationen im Besitz einer deutschen Familie befindet. Wir waren deshalb ungemein erfreut und gespannt, als sich Loretta Falk Helman an uns wandte. Sie erzählte uns von einem seltenen silbernen Tora-Schild aus dem 18. Jahrhundert, der seit jeher im Besitz ihrer Familie ist und diese auf ihrem Weg der Migration begleitet hat. Und wie sich heraus­stellte, hatte dieser prächtige Schild nicht nur eine besondere Geschichte, sondern wurde nach wie vor in seinem ur­sprünglichen Kasten auf­bewahrt! Als ich Loretta Falk Helman fragte, wo sich der Schild momentan befinde, erzählte sie mir, dass er im hintersten Winkel ihres Schranks in Toronto liege.

„Die jüdische Familie und die jüdische Abstammung waren für die Identität meines Vaters von zentraler Bedeutung.“ (Loretta Falk Helman)

So erzählt Loretta Falk Helman ihre Geschichte:

„Mein Großvater Sigmund Falk hat dieses originale Tora-Schild-Kästchen beschriftet, bevor er aus Deutschland floh. Er hielt die Namen der Erben fest. Veronika (Sittenheim) hatte den Tora-Schild bei ihrer Heirat in die Familie Falk eingebracht. Mein Vater Joseph fügte seinen Bruder, Cousins, mich und meine drei Söhne Garron, Wayne und Anton Helman hinzu. Die jüdische Familie und die jüdische Abstammung waren für die Identität meines Vaters von zentraler Bedeutung. Er schätzte dieses Erbe sehr. In seinen Memoiren schildert er, wie er als Kind jeden Schabbat die Schachtel bei seinem Großvater abholte und zum Gottesdienst in die Wallauer Synagoge brachte. 1952 gelangte das Kästchen mit meinem Großvater über die USA nach Kapstadt, wo er es meinem Vater übergab, der es dann 1978 von Kapstadt mit nach Toronto nahm. Der Tora-Schild wurde jedem gezeigt, der ihn sehen und seine Geschichte hören wollte.

Als mein Vater recht betagt war, betraute er mich, sein einziges Kind, mit der Verwahrung und Pflege des Kästchens mit dem Tora-Schild. Dessen Geschichte spiegelt den Werde­gang der Familie Falk über fünf Generationen wider.“

Porträt von Loretta Falk Helman

Loretta Falk Helman bei der Übergabe des Tora-Schildes; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Anna-Carolin Augustin

Die Geschichte der Familie Falk lebt fort

Das Jüdische Museum Berlin war in der glücklichen Lage, den Tora-Schild samt Kästchen für seine Sammlungen erwerben zu können, und so sind sie, nachdem sie einmal um die Welt gereist waren, wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Zudem hat Loretta Helman unserem Archiv Familien­unterlagen gestiftet. So kann das Museum die Geschichte der Familie Falk, die so eng mit diesen beiden Objekten verbunden ist, bewahren und weitergeben.

Ein seltenes und schönes Exemplar deutscher Judaica

Dieser Tora-Schild ist ein seltenes und schönes Stück deutscher Judaica. In aschkenasischen Gemeinschaften werden Tora-Rollen in der Regel in einem Tora-Schrein aufbewahrt, der sich im Gebet­raum einer Synagoge befindet. Die Schrift­rolle ist mit einem dekorativen Mantel, einem Tora-Zeiger (der beim Lesen der Schriftrolle benutzt wird) und einem schmückenden Tora-Schild versehen. Auf diesem Tora-Schild ist das jüdische Jahr 5472 graviert, was laut gregor­ianischem Kalender das Jahr 1711/12 bezeichnet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren Juden noch von der Mitglied­schaft in den Zünften aus­geschlossen, daher mussten sie ihr zere­monielles Silber bei nicht­jüdischen Gold- und Silberschmieden in Auftrag geben. Die deutschen Tora-Schilde jener Zeit wiesen in der Regel je nach Region stilistische Unterschiede und lokale Ähnlichkeiten auf. Dieser Schild wurde im bayerischen Kitzingen in der Werkstatt von Johann Heinrich Schneider hergestellt und gehört zu einer kleinen Gruppe von Schilden aus dem 18. Jahrhundert, die dort gefertigt wurden.

Abfotografierte schwarz-weiß-Fotografie eines Tora-Schildes mit Hirschen und anderen Verzierungen

Ein historisches Bild eines ähnlichen Tora-Schildes aus Kitzingen; Jüdisches Museum Franken | Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, CAHJP P160-428

Die Jüdische Gemeinschaft in Wallau

Es ist eher ungewöhnlich, einen Tora-Schild zu Hause aufzu­bewahren, aber der Tora-Schild der Familie Falk war deren persönliches Eigentum, und ihre Mitglieder brachten ihn regelmäßig zur feierlichen Verwendung in ihre Synagoge. Die jüdische Gemeinde in Wallau war klein und das Synagogen­gebäude bescheiden. Zuletzt wurde die Synagoge 1920/1921 renoviert. Sie bot 40 Männern und 24 Frauen Platz. Die Gemeinde verwendete diesen schönen Schild bis Lorettas Vater Joseph diesen mitnahm, als er Deutschland 1936 verließ. Andere Mitglieder der Familie Falk schafften es nicht mehr, Deutschland zu verlassen, wurden deportiert und kamen ums Leben. Beim Pogrom im November 1938 wurde der Innenraum der Wallauer Synagoge zerstört, die verbliebenen Kultgegenstände wurden auf den Leichenwagen der jüdischen Gemeinde geladen, zum Sportplatz gefahren und verbrannt.

Wir und andere werden den Tora-Schild und sein Kästchen auch künftig noch erforschen und uns damit auseinander­setzen; beides sind Gegenstände, die der Forschung viele weitere Möglich­keiten eröffnen. Doch dank ihrer eindeutigen Herkunft sind sie zudem das Zeugnis einer Familie sowie der zerstörten jüdischen Gemeinschaft von Wallau.

Michal Friedlander, Kuratorin für Judaica und Angewandte Kunst

Synagoge Wallau

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Zitierempfehlung:

Michal Friedlander (2021), Zeugnis einer Familie. Tora-Schild (Tas) und Kästchen, Kitzingen, 1711/12, Ankauf 2014.
URL: www.jmberlin.de/node/8453

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