Direkt zum Inhalt

Hinweis: Wir liefern alle Bilder im WebP-Format aus. Seit September 2022 wird dieses Format von allen modernen Browsern unterstützt. Es scheint, dass Sie einen älteren Browser verwenden, der keine Bilder im WebP-Format anzeigen kann. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser.

Die ganze Wahrheit: ein immerwährendes Gespräch

Es gibt Menschen, die die Ausstellung Die ganze Wahrheit nicht nur ein oder zweimal, sondern ein paar Dutzendmal besuchen: wir Guides, die unsere Besucher*innen durch die Ausstellung begleiten. Diesmal haben wir nicht die Aufgabe, die Exponate und ihren Hintersinn vorzustellen, sondern dem Publikum, der sehr konkreten Öffentlichkeit, Stellungnahmen zu entlocken und die entstehende Diskussion zu moderieren. Schließlich kommen die Fragen, an denen sich die Ausstellung entwickelt, ebenfalls von Besucher*innen. Das Museum spiegelt sie an einer Vielzahl von Objekten, die die Kuratorinnen dazu ausgesucht haben.

Die Exponate sind sehr unterschiedlich und durchweg überraschend – der Tonfall, den sie anschlagen, variiert. So reagieren die meisten Besucher*innen zunächst verblüfft und sprachlos vor der Chuzpe einiger Arrangements. Doch sobald man sich als Gruppe durch die Ausstellung bewegt und es mit seiner Begleitung zu tun bekommt, ergänzen sich die verschiedenen Sprachlosigkeiten beredt. Wie sonst auch werden vor einem Exponat häufig einander widersprechende Meinungen dazu geäußert. Aber während man üblicherweise meint, die eine wäre wahr und die andere etwas weniger, so merkt man hier, dass es diesmal im Museum gar nicht vor allem um das Objekt und seine historische Botschaft geht, sondern um das Sprechen darüber, genauer: das Verhalten dazu, die Stellungnahme.

Und so zirkulieren in der Ausstellung auch viele Klischees und Vorurteile über das Judentum: aber eben nicht nur so, dass diese entlarvend vorgeführt werden. In fünf Kästen kann man selbst zu Vorurteilen abstimmen – es wäre vermutlich selber eines, das nur als böswilligen Spiegel wahrzunehmen. Vielmehr zeigen die ganz verschiedenen, oft widersprüchlichen Reaktionen der Besucher*innen, dass es in dieser Ausstellung nicht das richtige und das falsche Verhalten angesichts von Klischees gibt. Vielmehr geht es erst einmal darum, offen über sie zu sprechen. Und gelegentlich darüber zu lachen.

Was für treffende und doch unterschiedliche Reaktionen auf die Ausstellung möglich sind, wird dann selbst für die schweigsamen Zeitgenoss*innen noch einmal am Ende des Rundgangs sichtbar. Aus einzelnen Zetteln, Post-its, die das sonst übliche Besucherbuch ersetzen, ist eine ganze Wand, eine eindrucksvolle Installation geworden: Die Berliner Öffentlichkeit hat die Ausstellung um ihren eigenen Beitrag ergänzt. Da liest man nicht nur launige Kommentare, sondern auch verblüfft, wie frei und phantasievoll die einen die Meinungen der anderen ergänzen, fortschreiben, karikieren, erweitern. Und für einen glücklichen Augenblick geht dem Betrachter auf, dass „die ganze Wahrheit“ mehr als eine ironische Floskel ist, dass es sie tatsächlich geben könnte: als ein fortlaufendes, einladendes, unabschließbares Gespräch, in das Menschen und Dinge für die Zeit ihrer hier versammelten Gegenwart eintreten. Deswegen: nichts wie hin!

Marc Wrasse, Guide

Fünf Säulen zum Einwerfen von Jetons mit den Aufschriften: »geschäftstüchig?«. »tierlieb?«, »einflussreich?«, »intelligent?«, »schön?«

Barometer zu der Frage „Sind Juden besonders …?“ in der Ausstellung Die ganze Wahrheit; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Linus Lintner

Zitierempfehlung:

Marc Wrasse (2013), Die ganze Wahrheit: ein immerwährendes Gespräch.
URL: www.jmberlin.de/node/6425

Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Die ganze Wahrheit“ (7)

  • Beiträge zur Ausstellung „Die ganze Wahrheit“

    Welche Hürden es vor Eröffnung der Ausstellung Die ganze Wahrheit (2013) zu nehmen galt, wie es sich als Jüdin in einer Vitrine der Ausstellung anfühlte, wie Besucher*innen reagierten, was aus der Ausstellung weiteres erwuchs ...

  • Die Kuratorin Michal Friedlander liegt auf einem der Schaukästen.

    Strapazen einer Wahrheitssucherin

    Michal Friedlander über den Countdown vor der Ausstellungseröffnung

    Blick hinter die Kulissen
    2013

  • Der leere Stuhl bei den Dreharbeiten zwischen zwei Scheinwerfern und hinter einer Kamera.

    Ask the Rabbi

    Martina Lüdicke über die Dreharbeiten zur Filminstallation in der Ausstellung Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Eine Frau steht redend in der Vitrinenöffnung, davor eine Gruppe Zuhörende.

    In der Vitrine

    Olga Mannheimer über ihre Erfahrung als sprechendes „Ausstellungsobjekt“ in Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Eine Frau sitzt auf einer Bank in einem vorne offenen Glaskasten.

    Von Wagner bis zum Wetter

    Signe Rossbach über ihre zwei Stunden als lebendiges Ausstellungsstück in der Ausstellung Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Zeitschriften-Cover mit einem Proträt von Marilyn Monroe und dem Titel „marilyn enters a Jewish family“.

    Konversion & Kontroverse

    Naomi Lubrich über die Konjunktur des Themas und über religiöse Loyalität

    Essay
    2013

  • Fünf Säulen zum Einwerfen von Jetons mit den Aufschriften: »geschäftstüchig?«. »tierlieb?«, »einflussreich?«, »intelligent?«, »schön?«.

    Die ganze Wahrheit: ein immerwährendes Gespräch

    Guide Marc Wrasse über seinen Blick auf die Ausstellung und was sie bei Besucher*innen auslöst

    Essay
    2013

  • Nahaufnahme einer grauen Wand mit beschrifteten rosa Notizzetteln.

    Nach der Ausstellung ist vor der Ausstellung

    Martina Lüdicke über die Entscheidung, den Fragen zum Thema Beschneidung eine eigene Ausstellung zu widmen

    Blick hinter die Kulissen
    2014

Erfahrungsberichte: Was man bei Führungen alles erleben kann (5)

  • Was man bei Führungen alles erleben kann

    Einige unserer Guides, aber auch Besucher*innen haben hier ihre Erfahrungen mit verschiedenen Führungen im Jüdischen Museum Berlin aufgeschrieben.

  • Tastmodell des Straßenschilds „Welcome to Jerusalem“.

    Jerusalem für alle Sinne

    Gerald Pirner berichtet vom Besuch einer Führung für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung durch die Ausstellung Welcome to Jerusalem

    Bericht
    2019

  • Raumansicht: Videoprojektion von Jerusalem auf einer Wand.

    Intensive Begegnungen in „Jerusalem“

    Reaktionen von Schüler*innen bei Führungen durch die Ausstellung Welcome to Jerusalem. Ein Gespräch mit Marc Wrasse

    Interview
    2019

  • Gruppenführung in einem unübersichtlichen, mit Pappfiguren vollgestellten Ausstellungsraum

    Wie wär’s mit etwas mehr Ambiguitätstoleranz?

    Mohamed Ibrahim und Shemi Shabat sprechen über die Tandem-Führung Jerusalem im Dialog

    Interview
    2018

  • Ausstellungsansicht, Wand mit der Beschriftung: Haut ab.

    Im Hamsterrad der Argumentation

    Andy Simanowitz berichtet über hartnäckige Fragen und Argumentationsspiralen als Guide in der Ausstellung Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung

    Bericht
    2015

  • Fünf Säulen zum Einwerfen von Jetons mit den Aufschriften: »geschäftstüchig?«. »tierlieb?«, »einflussreich?«, »intelligent?«, »schön?«.

    „Die ganze Wahrheit“: ein immerwährendes Gespräch

    Guide Marc Wrasse über seinen Blick auf die Ausstellung Die ganze Wahrheit und was sie bei Besucher*innen auslöste

    Essay
    2013

Links zu Themen, die Sie interessieren könnten

Teilen, Newsletter, Kontakt