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Konversion & Kontroverse

Gedanken über die Konjunktur dieses Themas und über religiöse Loyalität

Warum ein bestimmtes Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt das Interesse der Öffentlichkeit entfacht, ist nicht immer gleich ersichtlich. Das Thema Konversion, beispielsweise, ist derzeit Gegenstand von Konferenzen, Vorlesungen und Ausstellungen im deutschsprachigen Raum, ohne dass sich an seiner sozialen Relevanz oder im religiösen Gefüge vorab bemerkenswerte Veränderung ergeben hätten.

Zum Judentum konvertieren nur wenige. Laut Erhebungen der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland werden jährlich in den deutsch-jüdischen Gemeinden durchschnittlich 64 Konversionen durchgeführt, und an dieser Zahl hat sich seit dem Jahr 2000 wenig verändert. Auch die Größe der jüdischen Gemeinde bleibt relativ stabil: Seit über einem Jahrzehnt bewegt sich die Zahl ihrer Mitglieder um die 105.000. Im Vergleich zur Gesamtgemeinschaft stellt der Anteil aller Konvertit*innen seit 1990 – insgesamt genau 1.366 Menschen – weniger als ein Prozent der jüdischen Gemeinschaft dar. Dagegen stehen etwa 100 Jüdinnen*Juden im Jahr, die aus der Gemeinde austreten, wobei diese Zahl wenig aussagekräftig ist, da sie Menschen mit den verschiedensten Motiven, unter anderem auch finanziellen, mitberücksichtigt. Alles in allem handelt es sich bei den jüdischen Konvertit*innen also um eine kleine und exotische Minderheit.

Und doch wird das Thema mit großem Enthusiasmus diskutiert. Die ETH Zürich bot im Herbst 2012 eine Vorlesungsreihe mit dem Titel „Konversion. Interreligiöse Übertragungen, Grenzziehungen und Zwischenräume“ an, kurz nachdem die Universität Trier ihre Konferenz zum Thema – „Orts-Wechsel, Blick-Wechsel, Rollen-Wechsel: Konversion in Räumen jüdischer Geschichte“ – im Juni 2012 beendet hatte. Das Jüdische Museum Berlin zeigt in seiner Ausstellung Die ganze Wahrheit die fließenden Grenzen jüdischer Identität auf, und zwar anhand der Biografien von Jüdinnen*Juden, Nicht-Juden, Teiljuden und verschiedenen Konvertit*innen, darunter die Schauspielerin Marilyn Monroe.

Zeitschriften-Cover mit einem Proträt von Marilyn Monroe und dem Titel „marilyn enters a Jewish family“

Bild in der Ausstellung Die ganze Wahrheit zur Frage: Jude oder nicht? Marilyn Monroe auf dem Cover des Modern Screen Magazine, November 1956; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Besonders ausführlich wird das Thema in der Ausstellung Treten Sie ein! Treten Sie aus! der jüdischen Museen von Hohenems, Frankfurt und München (und einer Reihe anderer Partner) behandelt. Konversionen werden aus kultureller, ritueller und psychologischer Perspektive erörtert, wobei Ausstellungsobjekte und dazugehörige Texte die Konversionsgeschichten einzelner in drei Stadien nachverfolgen: das Davor, das Ereignis und das Danach. Die Geschichten werden anhand von Piktogrammen verbildlicht, über die nachzuvollziehen ist, welche Religion angenommen und welche zurückgewiesen wurde. Insgesamt sind viele Religionen vertreten: das Christentum und der Islam, aber auch der Schamanismus, Buddhismus und Pastafarianismus, eine atheistische Parodie auf Religion, in der einem Spaghettimonster als oberstes, göttliches Wesen Tribut gezollt wird. Die Texte sind prägnant, integrativ und gelegentlich ironisch, mit Katalogs- und vielen Programmbeiträgen von Konvertit*innen, Wissenschaftler*innen und Intellektuellen.

Woher stammt also das Interesse an einem Ritual, das nur wenige praktizieren? Im heutigen Deutschland geht es scheinbar nicht etwa darum, eine Religionskultur gegen eine andere einzutauschen, sondern um den Versuch, verschiedene Religionen auf persönlicher Ebene, innerhalb von Beziehungen oder Gemeinschaften und Gesellschaften miteinander zu vereinbaren – oder sich ganz von ihnen abzuwenden. Wenn man dem Eurobarometer der Europäischen Union von 2005 glauben darf, ist die Mehrzahl der Deutschen nicht religiös. Christliche Kirchen, die seit vielen Jahren nur noch schwindende Gemeinden verzeichnen, haben angefangen darüber nachzudenken, ob und wie sie ihre Gebäude umwidmen könnten. Und auch die jüdischen Gemeinden sind nicht annähernd so groß, wie sie sein könnten. Während über 200.000 Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland emigriert sind, zählen die Mitglieder der jüdischen Gemeinden gerade einmal die Hälfte. Das bedeutet, dass sich die große Mehrheit gegen einen Eintritt in die Religionsgemeinschaft entschieden hat. Vielleicht erfreut sich also das Thema Konversion solch großer Beliebtheit, weil es die Rede auf genau das bringt, was zu schwinden scheint: religiöse Loyalität.

Naomi Lubrich, Medien

Orts-Wechsel, Blick-Wechsel, Rollen-Wechsel

Konversion in Räumen jüdischer Geschichte
Zum Tagungsprogramm auf H-Soz-Kult

Treten Sie ein! Treten Sie aus!

Warum Menschen ihre Religion wechseln
Beitrag zur Ausstellung im Blog des Jüdischen Museums München

Zitierempfehlung:

Naomi Lubrich (2013), Konversion & Kontroverse. Gedanken über die Konjunktur dieses Themas und über religiöse Loyalität.
URL: www.jmberlin.de/node/6419

Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Die ganze Wahrheit“ (7)

  • Beiträge zur Ausstellung „Die ganze Wahrheit“

    Welche Hürden es vor Eröffnung der Ausstellung Die ganze Wahrheit (2013) zu nehmen galt, wie es sich als Jüdin in einer Vitrine der Ausstellung anfühlte, wie Besucher*innen reagierten, was aus der Ausstellung weiteres erwuchs ...

  • Die Kuratorin Michal Friedlander liegt auf einem der Schaukästen.

    Strapazen einer Wahrheitssucherin

    Michal Friedlander über den Countdown vor der Ausstellungseröffnung

    Blick hinter die Kulissen
    2013

  • Der leere Stuhl bei den Dreharbeiten zwischen zwei Scheinwerfern und hinter einer Kamera.

    Ask the Rabbi

    Martina Lüdicke über die Dreharbeiten zur Filminstallation in der Ausstellung Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Eine Frau steht redend in der Vitrinenöffnung, davor eine Gruppe Zuhörende.

    In der Vitrine

    Olga Mannheimer über ihre Erfahrung als sprechendes „Ausstellungsobjekt“ in Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Eine Frau sitzt auf einer Bank in einem vorne offenen Glaskasten.

    Von Wagner bis zum Wetter

    Signe Rossbach über ihre zwei Stunden als lebendiges Ausstellungsstück in der Ausstellung Die ganze Wahrheit

    Bericht
    2013

  • Zeitschriften-Cover mit einem Proträt von Marilyn Monroe und dem Titel „marilyn enters a Jewish family“.

    Konversion & Kontroverse

    Naomi Lubrich über die Konjunktur des Themas und über religiöse Loyalität

    Essay
    2013

  • Fünf Säulen zum Einwerfen von Jetons mit den Aufschriften: »geschäftstüchig?«. »tierlieb?«, »einflussreich?«, »intelligent?«, »schön?«.

    Die ganze Wahrheit: ein immerwährendes Gespräch

    Guide Marc Wrasse über seinen Blick auf die Ausstellung und was sie bei Besucher*innen auslöst

    Essay
    2013

  • Nahaufnahme einer grauen Wand mit beschrifteten rosa Notizzetteln.

    Nach der Ausstellung ist vor der Ausstellung

    Martina Lüdicke über die Entscheidung, den Fragen zum Thema Beschneidung eine eigene Ausstellung zu widmen

    Blick hinter die Kulissen
    2014

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