Veröffentlicht von am 16. Juni 2015 0 Kommentare

Die Flucht vor dem Fluchtpunkt

Ein schwarz gekleideter Mann mit Hosenträgern steht zwischen großformatigen Bildern

Georg Sadowicz in seinem Atelier
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Kilian Gärtner

In Berlin-Hohenschönhausen bin ich mit Georg Sadowicz in seinem Atelier verabredet. Der heute in Berlin lebende Künstler wurde im polnischen Liegnitz nahe der deutschen Grenze geboren. Zwei seiner Werke, Vorstudien zu größeren Arbeiten, sind seit April in limitierter Auflage für die Besucher des Jüdischen Museums Berlin im Kunstautomaten in der Dauerausstellung zu erwerben: Sie heißen »Der Vorbeter« und »Die Mühle«. Etwa hundert Meter vom Atelierkomplex entfernt befindet sich die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit den Räumlichkeiten der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Staatsicherheit der DDR. Ihr Anblick löst ein beklemmendes Gefühl bei mir aus, das sich erst verflüchtigt, als ich Sadowiczʼ Atelier betrete.

Georg Sadowicz hat eine bewegte Lebensgeschichte. Als er sechzehn Jahre alt war, zog seine Familie aus Polen ins westdeutsche Nürnberg. Nach der Schule studierte er Bildende Kunst in Dresden und war Meisterschüler bei Ralf Kerbach, der an der dortigen Hochschule für Bildende Künste Malerei und Grafik lehrt. Wichtig war für ihn auch sein Mentor und Förderer Professor Max Uhlig. Erst vor ungefähr fünfzehn Jahren verschlug es Sadowicz dauerhaft nach Berlin, wo sich ihm künstlerische und finanzielle Möglichkeiten auftaten, die ihm in anderen Städten versperrt blieben.

Ein Kunstwerk aus dem Kunstautomaten des Jüdischen Museums Berlin

Georg Sadowicz, Der Vorbeter, 2014
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Unmittelbar nach dem Studium vertiefte sich Sadowicz zunächst in die Kunst der Malerei. Inzwischen hat er sich dem Linolschnitt zugewandt. In der Produktion von Linolschnitten durchläuft jedes Bild einen komplexen Herstellungsprozess von der ersten Vorlage über den Negativschnitt in das Material bis hin zur finalen Färbung. Die Ergebnisse sind nicht immer vorhersehbar: »Manche Vorlagen liegen seit mehr als einem Jahr in meinem Atelier und andere stellen sich erst im Verlauf des Bedruckens als gescheitert heraus. Man könnte das Entstehen meiner Kunstwerke mit einem Schachspiel vergleichen. Ich plane zwar die Züge im Voraus und will gewinnen. Sie können aber auch falsch sein. Das merkt man erst am Ende des Spiels«, beschreibt Sadowicz die Schwierigkeiten dieses Prozesses und fügt hinzu, dass Scheitern jedoch wichtig sei, denn daraus lerne er viel.

Georg Sadowicz, Die Mühle, 2014 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Georg Sadowicz, Die Mühle, 2014
© Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Die Kunstform des Linolschnitts entspricht Sadowiczʼ allgemeinem Kunstverständnis. Mit Ausnahme der Werke für den Kunstautomaten, Offsetdrucke die auf kleinen Linolschnitten basieren, fertigt der Künstler meist großformatige Linolschnitte an. Wichtig ist ihm dabei, dass hier »das übliche perspektivische Raumkonstrukt von klassischer Kunst beim Betrachten nicht greift«. Die traditionelle Aufteilung in Vordergrund, Mitte und Hintergrund wird in seinen Arbeiten permanent hinterfragt. Unterstützt wird dies dadurch, dass es in den allermeisten Kunstwerken von Sadowicz keinen Fluchtpunkt gibt: »Ich ordne alle Elemente im sich wiederholenden Wechselspiel rhythmisch so an, dass die Raumverortung immer ambivalent bleibt. Vieles befindet sich gleichzeitig auf allen drei Ebenen: Vorne, Hinten und in der Mitte.« So erscheinen viele Formen als Teil eines größeren Ganzen, das sich wiederum in immer detailliertere Symbole und Szenen zu unterteilen scheint. Das lässt sich auch bei Sadowiczʼ kleinformatigen Werken für den Kunstautomaten beobachten.

Mein interessanter Besuch in Georg Sadowiczʼ Atelier dauert in meinen Gedanken fort – nicht zuletzt, weil er mir einen Einblick in die prekäre Situation vieler Berliner Künstlerinnen und Künstler gegeben hat: Sadowicz erzählte mir von seinem früheren Atelier in Berlin Kreuzberg, das mit der Zeit zu teuer wurde. Sein Umzug in die alte Fabrikhalle in Hohenschönhausen ist also auch ein Sinnbild für die räumliche Verdrängung der Berliner Künstlerinnen und Künstler aus dem Zentrum der Stadt an die Peripherie.

Auf den Weg nach Hohenschönhausen machte sich Kilian Gärtner, der bei Kunstwerken nun nicht mehr notwendig einen Fluchtpunkt sucht.

P.S.: Weitere Informationen zu den Kunstwerken sowie den anderen Künstlerinnen und Künstlern des Kunstautomaten finden Sie hier.

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