Die Künst­lerin und die Natur­wissenschaft­lerin

Über die Schwestern Gertrud und Margarete Zuelzer

Schwarz-weiß Bild von zwei Frauen in Kostümen.

Die Schwestern Gertrud (1873–1968) und Margarete Zuelzer (1877–1943) in Kostümen, ca. 1900; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/192/5, Schenkung von Max Bloch

Im Rahmen unseres Frei­willigen Sozialen Jahres Kul­tur (FSJ K) haben wir, Annika Späth und Lena Katz, uns für ein eigen­verant­wortliches Projekt ent­schieden, bei dem wir Be­stände aus dem Archiv des Jüdischen Museum Berlin (JMB) und dahinter­liegende Bio­grafien auf der Website des JMB sichtbar machen. Bei der Recher­che stießen wir auf die Geschwister Gertrud und Marga­rete Zuelzer. Beein­druckt hat uns an den Bio­grafien der Zusammen­halt der Schwes­tern. Außer­dem verfolgten die beiden unver­heirateten Frauen ihre jeweiligen Karrieren und stellten, ob bewusst oder unbewusst, die damaligen Geschlechter­rollen in Frage.

Gemeinsame Kindheit

Gertrud Zuelzer kommt am 26. November 1873 zur Welt. Drei Jahre später folgt am 7. Februar 1877 ihre Schwester Marga­rete. Ihre Mutter Henriette Zuelzer (geb. Friedländer) und ihr Vater, der Tuch­fabrikant Julius Zuelzer, ziehen die beiden Mädchen und ihre ältere Schwester Anna im nieder­schlesischen Haynau auf. Im Jahr 1880 entscheiden sich die Eltern mit ihrer Familie nach Berlin umzuziehen, um ihren Töchtern bessere Bildungs­chancen zu ermöglichen.

„Wie viele Juden zog es Julius Zuelzer aus Schlesien in das auf­strebende Berlin, und die Sicherung einer guten Aus­bildung für alle Kinder – nicht nur für die Söhne – gehörte zu den Selbst­verständlichkeiten in jüdischen Familien, sofern sie es sich finan­ziell leisten konnten.ˮ (Rede von Annette Vogt anlässlich der Stolper­steinverlegung am 2. September 2012)

Gertrud und Margarete entwickeln bereits früh eine enge Be­ziehung, die auch über die Zeit im Eltern­haus hinaus anhält.

Ausbildung zur Landschafts- und Porträtmalerin

Gertrud beginnt Ende des 19. Jahr­hunderts eine Aus­bildung zur Kunst­malerin in Berlin. Zeit­weise studiert sie in Frank­reich und lernt bei verschiedenen Künstlern wie Franz Lippisch, Gustave Courtois, Charles Cottet und Lucien Simon, in dessen Pariser Atelier sie vorüber­gehend malt. Besonders inspi­rierend findet sie die Kunst von Paul Cézanne.

Historische Schwarz-Weiß-Fotografie von drei Kindern in weißen Kleidern.

Die Schwestern Anna (1872–1948), Gertrud (1873–1968) und Margarete Zuelzer (1877–1943), ca. 1880; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/192/3, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Frauenstudium und Promotion

Ihre kleine Schwester Margarete studiert ab dem Winter­semester 1898 Natur­wissenschaften an der Uni­versität zu Berlin und gehört damit zu der ersten Gene­ration weiblicher Studie­render. Da das sogenannte Frauen­studium zu dieser Zeit in Berlin noch ver­boten ist, kann sie nur als Gast­hörerin an den Vor­lesungen teilnehmen. Um aber als „echte” Studentin ange­nommen zu werden und damit ihren Ab­schluss erwerben zu können, wechselt Margarete im Sommer 1902 an die Uni­versität Heidel­berg. Dort kann sie 1904 als erst sechste Frau an der naturwissen­schaftlichen Fakultät promo­vieren.

Gemeinsames Leben in Berlin

Als die beiden Schwestern nach ihren Aus­bildungen, Anfang des 20. Jahr­hunderts, nach Berlin zurück­kehren, leben sie gemein­sam in einer Wohnung in Charlotten­burg. Ihr wohl­habender Onkel Friedrich von Friedländer-Fuld unter­stützt sie finanziell. Das ermög­licht den beiden ihre Leiden­schaften als Künst­lerin und Wissen­schaftlerin aus­zuüben.

Nach vier Jahren Unter­richt bei Arthur Kampf macht sich Gertrud in eigenem Atelier mit der Kunst­malerei selbst­ständig. Auf verschiedenen Aus­stellungen in Berlin etabliert sie sich als Porträt- und Land­schafts­malerin, darunter die Große Berliner Kunst­ausstellung 1918.

Bereits 1916, während des Ersten Welt­kriegs, ent­scheidet sich Margarete zum Christen­tum zu konver­tieren und lässt sich in der Jerusalems-Kirche in Berlin taufen.

„Es kann nur gemut­maßt werden, ob diese Konver­sion von Er­wägungen des beruflichen Fort­kommens diktiert gewesen sei, ja dass sie vielleicht die Voraus­setzung ihrer Anstel­lung gewesen sein könnte. Dem kann nur er­widert werden, dass ihre Schwester, die als frei­schaffende Künst­lerin keinen eng­eren beruf­lichen Zwängen unter­lag, diesen Schritt eben­falls, am 23. Dezember des­selben Jahres, wieder­um in der Jerusalems-Kirche voll­zog. Die patriotische Aufwal­lung des Kriegs mag diese Ent­scheidung mitgetragen haben: Margarete erhielt am 16. Juli 1918 für ihre bakterio­logische Tätig­keit das Verdienst­kreuz für Kriegs­hilfe; Gertrud leitete als freiwillige Kriegs­schwester seit April 1918 ein Soldaten­heim an der West­front.“ (Rede von Max Bloch anläss­lich der Stolper­steinverlegung am 2. September 2012)
Historische Schwarz-Weiß-Fotografie  von zwei Frauen in Kostümen.

Die Schwestern Gertrud (1873–1968) und Margarete Zuelzer (1877–1943) in Kostümen, ca. 1900; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/192/5, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Altes Dokument eines Verwendungsbuchs aus dem Ersten Weltkrieg.

Verwendungs­buch von Gertrud Zuelzer (1873–1968) aus dem Ersten Welt­krieg, 29.04.1918; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/186/58, Schenkung von Max Bloch. Weitere Infor­mationen zu diesem Objekt finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Von der Hilfs­arbeiterin zur Regierungs­rätin

Margarete kann sich nach ihrer Rück­kehr nach Berlin als erfolg­reiche Wissen­schaftlerin beweisen. Den Ein­stieg in ihre Karriere macht sie dort zunächst als Hilfs­arbeiterin an der Königlichen Versuchs- und Prüfungs­anstalt für Wasser­versorgung. Mit dem Beginn ihrer Arbeit am Kaiserlichen Gesund­heitsamt 1916 kann sie sich dann auf die Er­forschung von Proto­zoen, Ein­zellern, speziali­sieren. Drei Jahre später schafft sie den Auf­stieg zur Regierungs­rätin und leitet das Protozoen­laboratorium im Ortsteil Dahlem. Ein Amt, das zu dieser Zeit keine andere Frau in Berlin inne­hat.

Ihre For­schung zur Weilschen Krank­heit, einer Infektions­krankheit, die durch Bakte­rien ausge­löst wird, wird auch über die Grenzen Deutsch­lands wahr­genommen. Im Auftrag der nieder­ländischen Re­gierung unter­nimmt Margarete 1926 eine Forschungs­reise zu Tropen­krankheiten in die damalige Kolonie Niederländisch-Indien. Ihre Eindrücke aus Sumatra, Java, Malaysia und Bali hält sie in umfang­reichen Reise­berichten fest:

„Schon in der ersten halben Stunde meiner Fahrt durch das Land lernte ich, mit allen herge­brachten Vor­stellungen zu brechen. Als ich mich mit konzen­trierter Aufmerk­samkeit allen Ein­drücken dieser Fahrt hingab, war nämlich meine erste Reflektion: „Hier gibt es ja Spatzen! Viele Spatzen!” Ich hatte damit gerech­net, Affen in Mengen – landläufig wie bei uns Spatzen – zu be­gegnen. Das war aber nicht so. Es hat drei Wochen ge­dauert, bis ich den ersten Affen in der Wild­nis zu sehen bekam.“ (Margaretes Reise­tagebuch S.1 ca. 1926; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/186/392, Schenkung von Max Bloch )
 Bestallungsurkunde mit verzierter Überschrift..

Bestallungs­urkunde des Reichs­gesundheitsamts für Margarete Zuelzer (1877–1943), 18.09.1919; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/186/326, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Historische Schwarz-Weiß-Fotografie  von zwei Forschern die im Gras sitzen.

Margarete Zuelzer (1877–1943) bei der Probenentnahme auf einer Forschungsreise, ca. 1926-1928; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2018/266/42, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Nach ihrem etwa zwei­jährigen Auslands­aufenthalt kehrt Margarete in ihre Heimat Berlin zurück. Hier setzt sie ihre Karriere im Kaiser-Wilhelm-Institut für physi­kalische Chemie fort und forscht weiter­hin in ihrem Fach­gebiet.

National­sozialistische Macht­übernahme und Berufs­verbot

Im April 1933, zwei Monate nach der national­sozialistischen Machtübernahme, wird Margarete als „nicht-arische” Person aufgrund der rassis­tischen Gesetz­gebung für den öffent­lichen Dienst in den sofor­tigen „Ruhe­stand” ver­setzt und kann von einem Tag auf den anderen ihren Beruf nicht mehr aus­üben. Er­schüttert von diesen Nach­richten verfasst Margarete ein Beschwerde­schreiben und schreibt:

„Ich habe keiner Partei angehört, mich stets aller Partei­politik fern­gehalten und aus­schließlich meiner wissen­schaftlichen Tätig­keit gelebt.“

Doch auch dieser Brief kann sie nicht vor einer Ent­lassung bewahren.

Zettel mit handschriftlich geschriebenen Sätzen, einige davon durchgestrichen.

Brief mit Stellungnahme Margarete Zuelzers (1877–1943) betreffend des Berufsbeamtengesetzes, ca. 1933; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/186/344, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Objekt finden Sie in unseren Online-Sammlungen

„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”

Das am 7. April 1933 erlassene Gesetz dient der Ent­lassung von Gegner*innen des NS-Regimes aus dem öffentlichen Dienst und der Gleich­schaltung von diesem. Außer­dem bestimmt der erstmals formulierte „Arier­paragraph“ (Paragraph 3) die sofor­tige Ver­setzung in den „Ruhestand“ von Personen, die gemäß der rassis­tischen Ideologie der Nazis als „nicht­arisch” gesehen werden.

Durch die Grün­dung der Reichs­kunstkammer im September 1933, wird auch Gertrud ge­zwungen ihren Beruf aufzu­geben. Ohne eigenes Ein­kommen muss sie des­halb von dem Erbe ihres Onkels leben.

Reichskunstkammer

Die Reichs­kunst­kammer wird am 22. Sep­tember 1933 durch das Pro­paganda­minis­terium gegründet und gliedert alle bereits exis­tierenden Berufs­verbände aus der Kultur ein. Sie dient der Gleich­schaltung, Über­wachung und Kontrolle der Kunst. Nicht aufge­nommen oder ausge­schlossen werden Künstler*innen, die gemäß der national­sozialistischen Ideo­logie als „nicht­arisch“ ange­sehen werden oder nicht regime­konform sind. Für sie be­deutet dies praktisch ein Berufs- und Veröffentlichungs­verbot.

Trennung der Schwestern

Die Schwes­tern leben noch bis 1939 in Berlin zusammen. Margarete kann nicht akzep­tieren, dass sie ihrer Arbeit nicht nach­gehen kann und sucht nach Projek­ten außer­halb von Deutsch­land. Als im Ausland weiter­hin an­erkannte Expertin nimmt sie an dem inter­nationalen Kon­gress für Mikro­biologie 1936 in London teil. Dank der Hilfe ihres früheren niederlän­dischen Arbeits­kollegen Wilhelm Schüffner bekommt Margarete im Oktober 1939 schließ­lich eine Anstellung am Insti­tut für tropische Hygiene in Amster­dam, worauf­hin sie in die Nieder­lande emi­griert.

Aus dem Exil hält Margarete über kurze Briefe den Kontakt zu ihrer Schwester. Und das auch nachdem Gertrud im Sommer 1942 untertaucht und einen Fluchtversuch in die Schweiz wagt. Festgehalten an der Grenze, wird die Künstlerin verhaftet und über mehrere Gefängnisse im November in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Immer wieder lässt Margarete ihrer älteren Schwes­ter Briefe und Pakete gefüllt mit Kleidung und Kunst­utensilien zu­kommen. Mit­hilfe dieser Pakete kann Gertrud andere Inhaf­tierte porträ­tieren und sich mit einer Zusatz­ration Lebens­mittel be­zahlen lassen. Mit Margaretes Unter­stützung schafft sie es so die Zeit im Ghetto zu über­leben.

„Eine alte Freun­din aus Berlin, Frau Geheim­rat Strauss, hatte mich schon Weih­nachten 1942 gebeten, ihren Mann zu zeich­nen. Die Zeich­nung glückte und darauf bekam ich viele Auf­träge, Zeich­nungen zu machen. Schwes­ter Grete und Lotte Otzen hatten mir Farb­stifte ge­schickt, Papier be­schaffte ich mir, so habe ich über 100 Porträt­zeichnungen gemacht. Da die Tschechen viel Pakete be­kamen, bezahlten sie mich mit Brot und ich glaube, dass ich es diesem Um­stand zu ver­danken habe, dass ich am Leben ge­blieben bin” (Gertrud Zuelzer/ Rede von Max Bloch an­lässlich der Stolper­steinver­legung am 2. September 2012)
Historische Schwarz-Weiß-Fotografie einer älteren Dame mit Hut.

Margarete Zuelzer (1877–1943) im niederländischen Exil, ca. 1939-1940; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/192/112, Schenkung von Max Bloch. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Auch in den Nieder­landen setzt das National­sozialistische Regime nach seiner Invasion im Früh­jahr 1940 anti­jüdische Maß­nahmen durch. Im Mai 1943 wird Margarete in das Durchgangs­lager Wester­bork depor­tiert, hier ver­stirbt sie am 29. August. Die Todes­ursache ist nicht bekannt. Schwer ge­troffen von dem Tod ihrer Schwester, ver­arbeitet Gertrud ihre Ge­fühle in einem Gedicht, das sie Margarete widmet:

Viel hast Du mir gegeben

durch Herz­lichkeit und Geist

schön war Zusammen­leben

nun bin ich ganz ver­waist!

Um­sorgt hast Du mich treulich

vom allzufernen Ort.

Ich kann es noch immer nicht fassen

dass Du ge­storben bist.

Ver­lassen, Freunde und Arbeit

Die Wissen­schaft, Streben und Ruhm!

Das Schöne, das du so liebtest!

Wir liebten dein Menschen­tum:

Wie Dein Charak­ter, Dein Tun bestimmte

Wie eng mit den Deinen Du bliebst ver­webt

Wie mitteil­sam, hilfs­bereit, heiter Dein Sinn –

so, wie Du warst, es in uns lebt.
Historische Schwarz-Weiß-Fotografie  von zwei Frauen im Profil, die sich aneinander lehnen.

Gertrud (1873–1968) und Margarete Zuelzer (1877–1943), ca. 1930; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2014/192/8, Schen­kung von Max Bloch. Weitere Infor­mationen zu diesem Doku­ment finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Gertrud kehrt 1945 zurück nach Berlin. Ihre Karriere als Künst­lerin setzt sie fort und stellt ihre Kunst auf der Berliner Kunst­ausstellung 1950 und im Charlotten­burger Rat­haus 1956 aus.

Mit 95 Jahren ver­stirbt Gertrud 1968 in ihrer Heimat Berlin. Der Tod der Schwester prägt sie bis an ihr Lebens­ende.

Zitierempfehlung:

Lena Katz, Annika Späth (2022), Die Künst­lerin und die Natur­wissenschaft­lerin. Über die Schwestern Gertrud und Margarete Zuelzer.
URL: www.jmberlin.de/node/9203

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