Chaotischer Bücherstapel

LGBTIQ*

Ein anekdotisches Glossar

LGBTIQ* scheint eine handliche Abkürzung, um verschiedene Begehrens­formen, Gender­konzepte und Lebens­entwürfe unter einen Hut zu bekommen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich: Das Kürzel benötigt eigentlich ein eigenes Glossar.

L

L – für Lesbians, Lesben oder als Adjektiv lesbian, lesbisch

Und im Judentum?

Gleich­geschlechtliche Beziehungen sind ein komplexes Thema im Judentum. Entgegen dem Klischee lehnt nicht jede orthodoxe Gemeinde Homo­sexualität und Homo­sexuelle ab. Schauen wir in die USA, gibt es eine reiche Sub­kultur an queeren (mehr zu diesem Adjektiv beim Buch­staben Q) Traditiona­list*innen, ortho­doxen Queers, modern-orthodox queer-rights Aktivist*innen und queeren ortho­doxen Gemeinden.

Die grobe Faustregel ist jedoch: Liberales Judentum ist offener als orthodoxes, Lesbisch­sein gilt als geringerer Verstoß gegen das jüdische Gesetz als Schwulsein.

Zeichnung dreier Frauen in langen Gewändern, zwei aneinander geschmiegt auf dem Rücken eines Hügels, eine weitere Schwiegertochter Noomis etwas abseits, den Kopf in die Hände gelegt

Rut und Noomi in der Bibel­illustration von Paul Gustave Doré, 1866; gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Dennoch bietet der Tanach eine der schönsten lesbischen Liebes­erzählungen der Geschichte: Rut und Noomi. Wird der Text traditionell – samt der Liebes­erklärungen zwischen den beiden Frauen – als Beispiel für Frauen­solidarität ausgelegt, gilt er in der Praxis des Re-Readings (in etwa Neu­lesens) oder Queer-Readings (Queer­lesens) als eines der Beispiele für lesbische Repräsentation in den jüdischen Schriften.

„Wo du hingehst, dort will ich auch hingehen, und wo du lebst, da möchte ich auch leben. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da will ich auch sterben und begraben werden“,

so die Worte der jungen Moabiterin Rut an die deutlich ältere Efratiterin Noomi.

Tanach

Der Tanach ist die Sammlung der heiligen Schriften des Juden­tums.
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G

G – für Gays, Schwule – gay, schwul

Und im Judentum?

Beziehungen und Sex zwischen Männern werden in vielen ortho­doxen Gemeinden als Verstoß gegen das Gebot der Frucht­barkeit verstanden. Als Beweis, dass G’tt gegen die Beziehung und vor allem den Sex zwischen Männern ist, gilt die Erzählung von Sodom. Beim Lesen der Erzählung wird jedoch deutlich: Hier ist nicht Sexualität, sondern sexualisierte Gewalt der Dreh und Angel­punkt g’ttlicher Konsequenz. Erzählt wird keine konsensuale Beziehung zwischen zwei Männern, die G’tt abstrafen würde. Vielmehr geht es um einen Akt bloßer Gewalt, indem rasende Sodomiter versuchen sich sexuellen Zugriff auf drei Engel zu verschaffen, gegen deren Willen. Die Folge dieses versuchten Übergriffs ist der Unter­gang der beiden Städte. Vor­rangig liberale, feministische und queere Aus­legungen verstehen daher die Geschichte von Sodom und Gomorra als klare Ver­urteilung sexuali­sierter Gewalt und nicht als Warnung gegen Homo­sexualität. Queer-gelesen gilt die Erzählung von David und Jonathan im Buch Samuel als Zeugnis schwuler Liebe im Tanach.

B

Beim B wird es schon komplizierter: B – für Biʼs, Bis oder Bisexuals, Bisexuelle, oder als Adjektiv bi & bisexual, bisexuell. Was wie kleine nuancierte Unter­schiede klingen mag, birgt politische Debatten nach der Frage von Selbst­verortung und den Dimensionen zwischen Sexualität und Begehren, Romantik, Beziehung und Körper­lichkeit, Lust und Lebens­realitäten.

Und im Judentum?

Zeichnung zweier Männer, die sich in den Arm fallen, am unteren Bildrand das abgeschlagene Haupt Goliaths, den David zuvor besiegt hat

David und Jonathan, gezeichnet von Gottfried Bernhard Göz (1708–1774); gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Ähnlich wie in den Debatten um Begehren generell, fällt Bi­sexualität auch in der Betrachtung von Sexualität und Judentum häufig hinten runter. Zwar gelten für sie die gleichen Hürden in Bezug auf gleich­geschlechtliche Beziehungen und gleich­geschlechtlichen Sex wie für Schwule und Lesben. Es gibt allerdings einen kleinen Unter­schied, wenn sie sich in einer hetero­sexuell gelesenen Beziehung befinden: 2016 ver­öffentlichte „Beit Hillel“ – ein Zusammen­schluss namhafter ortho­doxer Rabbiner in Israel – ein Papier, demzufolge nach der Halacha nicht das (gleich­geschlechtliche) Begehren verwerflich, sondern erst das Handeln danach Sünde sei. Das macht die Haltung des ortho­doxen Rates gegen­über Schwulen, Lesben und Bi­sexuellen zwar grund­sätzlich nicht weniger problematisch, für viele war es aber dennoch ein revolutionärer Schritt der ortho­doxen Gemeinden.

Halacha

Die Halacha ist das jüdische Gesetz­buch.
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T

Hinter T befinden sich ganze politische Bewegungen, die um An­erkennung ringen. Lange Zeit Trans­sexuals, Trans­sexuelle, später zunehmend Trans­gender. Heute wird, um den Dimensionen dieser Debatten und den unter­schiedlichen Lebens­realitäten dahinter gerecht zu werden, oft trans* (T*) oder sogar zwei T verwendet. Als Adjektiv macht trans* allerdings nur Sinn, wenn wir auch von lesbisch, schwul und bi sprechen, sobald die Substantive bemüht werden, ist es wichtig sich bewusst zu machen: Es sind Lesben, Schwule, Bis(exuelle) und trans* Menschen.

Und im Judentum?

Hier hat das Judentum dem Christen­tum definitiv einiges voraus. Das Judentum kennt im Gegen­satz zur christlichen Tradition sechs statt zwei Geschlechter. Und zwei davon beschreiben nach heutiger Inter­pretation die Lebens­realität von trans* Personen – auch wenn das Spektrum dabei sehr binär bleibt, nämlich nur die Transition von weiblich zu männlich (Ay’lonit/איילונית und männlich zu weiblich (Saris/סריס) vorsieht.1 Die Beschreibungen dieser Geschlechter sind zu weiten Teilen biologistisch, dennoch beziehen sie auch Habitus, Empfinden und Selbst­verständnis mit ein. Das Wichtigste aber ist, dass der Umstand ihrer Existenz unweigerlich trans* Personen ein Existenz­recht einräumt. Das Judentum erkennt an, dass Geschlecht wandel­bar und veränder­lich ist, und findet dafür Raum jenseits von cis Männlich­keit und cis Weiblich­keit.

Cisgender

Als cis bezeichnet man Menschen, für die die bei der Geburt gemachte Geschlechts­zuweisung passt: also zum Beispiel Männer, in deren Geburts­urkunde nach der Geburt „männlich“, oder Frauen, in deren Geburts­urkunde nach der Geburt „weiblich“ ein­getragen wurde.
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I

I hat eine ähnliche diskursive Ver­änderung erfahren – insbesondere im deutsch­sprachigen Raum. Im Englischen Intersex People, gibt es zwar auch heute Menschen, die sich bewusst als Inter­sexuelle, inter­sexuelle Personen bezeichnen. Mit dem Argument, dass es sich – im Gegen­satz etwa zu Homo­sexualität – nicht um eine Sexualität handelt, gilt allerdings inzwischen inter­geschlechtlich häufig als die zutreffendere Bezeichnung. Auch hier versucht die Praxis mit der Form inter* Personen dem Spektrum der Debatten und Lebens­realitäten gerechter zu werden, als die Begriffe inter­sexuell und inter­geschlechtlich es könnten.

Und im Judentum?

Eine innerhalb des jüdischen Wissens­kanons gar nicht so unübliche Aus­legung der Entstehungs­geschichte Genesis 2 (gemeinhin auch bekannt als die Geschichte von Adam und Eva) ist, dass der erste Mensch auf der Welt eine inter* Person war. Zwei weitere der insgesamt sechs Geschlechter im Judentum sind nämlich Androgynos (אַנְדְּרוֹגִינוֹ) und Tumtum (טֻומְטוּם). Beide umfassen Menschen, die aufgrund ihrer körper­lichen Beschaffen­heit ein eigenes Geschlecht beschreiben. Der gesellschaft­liche Diskurs der Gegenwart sagt, es gäbe Männer und Frauen und dann Menschen, die davon abweichen. Inter* Personen müssen heute nach wie vor dafür kämpfen, als eigenes Geschlecht anerkannt zu werden. Das Judentum stellt zwar auch eine Differenz zu Männern und Frauen fest, definiert Tumtum und Androgynos allerdings nicht als reine Abweichung oder Fehl­bildung zu diesen beiden, sondern jeweils als eigenes und valides Geschlecht. Und nicht nur das: Mit der Annahme, dass der erste Mensch (adam ist übrigens kein Männer­name, sondern das Wort „Mensch“ auf Hebräisch) androgynos war, liegt der Ursprung der Mensch­heit in den Armen einer inter* Person.

Q

Q – für Queers, oder queer. Aus dem US-Amerikanischen über­nommen ist es schwierig, eine deutsch­sprachige Entsprechung zu finden. Anfänglich als Beschimpfung verwendet, haben es sich Aktivist*innen im Laufe der 1980er und 1990er als Selbst­bezeichnung angeeignet. Später kam der Begriff auch nach Deutsch­land. Hier gibt es sehr unter­schiedliche inhaltliche Auf­fassungen über seine Bedeutung und Definition. Zunächst wurde er vor allem politisch und im Zusammen­spiel unter­schiedlicher Dimensionen von Dis­kriminierung verwendet. Heute wird queer häufig pauschal für alle Menschen verwendet, die von der gesell­schaftlichen Vorstellung in Bezug auf Geschlecht, Begehren, Sexualität und Beziehung abweichen.

Und im Judentum?

Wenn wir Queer­ness auf die politische Bewegung zurück­führen, bestehende Strukturen in Frage zu stellen und Systeme im Zeichen der Zeit neu zu bewerten, sind Queer­ness und Judentum eigentlich Schwestern im Geiste. Die Grund­lage jüdischen Denkens ist die Frage und das immer wieder neu Fragen; das Wissen, dass nichts ein­deutige und erst recht keine einfachen Antworten hat. Wir lesen die Tora jedes Jahr von neuem, mit dem Wissen, dass das, was wir lesen, sich verändert, weil wir uns verändern, weil der Kontext, in dem wir sie lesen, sich verändert, weil das, was wir von einem Text brauchen, sich verändert. Das Judentum hat eine Tradition der Über­gänge und Veränder­barkeit – Queerness vertraut auf Veränderbar­keit und ist selbst der Übergang zu struktureller Veränderung.

Holzschnitt auf Japanpapier: Brustbild einer jungen, unbekleideten Frau, Kopf im Profil nach links gewandt

Ruth. Blatt 6 aus der Mappe: Ruth von Fritz Lederer (1878–1949); Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

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Das Sternchen oder das Plus-Zeichen stehen dafür, dass eine Aufzählung von Lebens­realitäten immer etliche ungesehen lässt. Es symbolisiert das Wissen darum, dass die Auf­zählung nicht voll­ständig und niemals pass­genau ist. Dass Geschlecht und Begehren zu komplex sind, um in einer Aneinander­reihung von Buch­staben unter­gebracht werden zu können, und dass es überhaupt fraglich ist, ob Geschlecht und Begehren dort gemein­sam stehen sollten.

Und im Judentum?

Innerhalb jüdischer Communities in Deutschland wird man sich in den letzten Jahren zunehmend bewusst, dass man sich seiner Lücken gewahr werden muss. Gruppen, Aktivist*innen, Initiativen und Vereine weisen in Deutschland bereits seit den 1980ern darauf hin, dass jüdische Orte auch Orte für jüdische LGBTIQs* sein müssen. Genauso wird sehr viel Aufklärungs­arbeit geleistet, damit LGBTIQ*-Communities ein Zuhause für lgbtiq* Jüd*innen sein können. Dabei hat es im Judentum eigentlich eine lange Tradition, Raum für jene zu lassen, die wir sonst nicht hören. Aus diesem Grund sind in der jüdischen Gerichts­barkeit Urteile ungültig, wenn sich alle einig sind. Denn wenn alle sich widerspruchs­frei einig sind, kann das nur bedeuten, dass weitere Perspektiven fehlen. Aus diesem Grund wird der Kreis, in dem die Richter sitzen, auch nicht geschlossen. Denn nur, wenn man um die immer­währende Präsenz von Leer­stellen weiß und ihnen Raum lässt, können andere hinein­treten, um diese hoffentlich zu Füllen.

Das Symbol der Leer­stelle ist kein Ein­gestehen des eigenen Scheiterns, sondern ist der Raum, in dem Wissen wachsen kann und das Nicht-Mitgedachte eingeladen wird, Teil des Kanons zu werden. Der Kreis wird dabei größer, die Lücke wird jedoch nie geschlossen, denn es braucht zu jeder Zeit Platz für jenes, das noch nicht gewusst wird, jene, die vergessen wurden, solche, die ihre Stimme noch suchen, und die, denen bisher einfach nicht zugehört wurde. Das symbolische Sternchen in der historischen Praxis. Theoretisch …

Debora Antmann ist Kolumnistin und politische Bildnerin für die Schnitt­stelle Judentum, Feminismus und Queer-Studies. Sie hat in unter­schiedlichen Medien zu jüdisch-feministischer Bewegungs­geschichte publiziert. Inzwischen gehört sie nicht nur zum Team Digital & Publishing des Jüdischen Museums Berlin, sondern man kann sie sogar in der Dauer­ausstellung auf einem der 21 Monitore der Installation „Mesubin“ entdecken.

Chaotischer Bücherstapel

Queere jüdische Fach­literatur wie Torah Queeries, Becoming Eve, Queer Theory and the Jewish Question oder Mentsh gibt es bisher vor allem auf Englisch, deren Studium lohnt sich aber; Foto: Debora Antmann


  1. Bei den kursiv gesetzten Adjektiven handelt es sich um fremd­bestimmte Geschlechter­zuschreibungen. Gemeint ist damit das Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde, das jedoch nicht dem Geschlecht entspricht, in dem die Person lebt. ↩︎

Zitierempfehlung:

Debora Antmann (2021), LGBTIQ*. Ein anekdotisches Glossar.
URL: www.jmberlin.de/node/7645

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